Nachbericht 122. Typostammtisch: Triple Type Walk

Mit Jesse Simon entlang der U8

Für den U-Bahn-Typewalk trafen wir uns auf dem Bahnsteig Gesundbrunnen, ehemalige Endstation der Linie U8 bis in die 1970er Jahre. Jesse Simon, Autor von Berlin Typography, leidenschaftlicher Schriftenjäger (und -sammler) im ober- und unterirdischen Stadtbild, leitete uns erst einmal eine Ebene höher. Hier stellten wir uns gegenseitig vor und Jesse führte uns in die Geschichte des Berliner U-Bahnnetzes ein. Bessere Luft und weniger Lärm hier als auf dem Bahnsteig! Ein- und ausfahrende Züge sollten uns an diesem Nachmittag noch so manches Mal eine kurze Vortragspause einlegen lassen …

Zur Geschichte: Anfang des 20. Jahrhunderts gab es Pläne für eine Berliner Schwebebahn, ähnlich wie in Wuppertal. Daraus wurde aber nichts. Folglich wurde uns das S- und U-Bahnnetz beschert, mit turbulent-wechselhafter Historie – wir sind schließlich in Berlin. Wir erfuhren von lang geplanten, nie gebauten Verbindungen und Verlängerungen, von Geisterbahnhöfen, Ost-West-teilungsbedingtem Wirrwarr und einem sehr trägen Baugeschehen nach der Wiedervereinigung: Warum geht die U8 nicht bis zum Märkischen Viertel? Warum endet die U1 nicht am Adenauer Platz und trifft dort auf die U7, obwohl es sogar bereits einen entsprechenden Bahnsteig gibt – verwaist? Diese und andere Kuriositäten waren spannend mitzudenken, als wir uns im Anschluss auf den Bahnsteigen Schriften und Gestaltung im Allgemeinen anschauten.

Neben Schriften ging an diesem Nachmittag auch um Farben, Fliesen und Säulen. Es ging um lieb- und kraftlosen Denkmalschutz (siehe Bild von der Pankstraße), um gedankenlos ersetzte Schriftschätze und um gute Zurichtung trotz starrer Kachelstruktur (siehe Residenzstraße). Natürlich ging es auch um Menschen, vor allem um den visionären Rainer Gerhard Rümmler, Gestalter annähernd aller neu erbauten Berliner U-Bahnhöfe von Mitte der 1960er bis Mitte der 1990er Jahre – auch entlang der U8. Rümmler war übrigens so visionär und zukunftsgerichtet, dass er vorsichtshalber das Eszett in den U-Bahnhöfen vermied („…strasse“) – denn wer weiß schon, was bleibt?

Unsere Route verlief nordwärts, mit Einzelstopps zwischen Gesundbrunnen und Lindauer Allee, dann im langen Rutsch zurück zum Alexanderplatz (herrlicher Stilmix ionisch-imitierter Säulen) und von da aus zum gemeinsamen Feierabendbier in den Pratergarten. Dort hatten wir – nebst Getränken – spannenden Austausch mit den anderen Spaziergangsgruppen und Gästen, die „einfach so“ vorbeikamen. Vielen Dank allen interessierten Teilnehmer·innen und Jesse, für deine Begeisterung, deine unterhaltsamen Schilderungen und das viele Wissen, das wir nun freudig auf jeder U-Bahnfahrt Revue passieren lassen!

Einen Appell von Jesse möchten wir hier noch für die Öffentlichkeit festhalten: Berlin, kümmere dich um dein einmaliges visuell diverses U-Bahnnetz! Dieser typografische und gestalterische Schatz der Unterschiedlichkeit der Bahnhöfe sollte unbedingt geschätzt und gepflegt werden. Er gehört zu Berlin – und das soll auch noch lange so bleiben.

Themenverwandt: Der U7-Typewalk mit Jesse Simon im Herbst 2022.

Vorstellung und geschichtliche Einleitung in einer ruhigeren Ecke des U-Bahnhofs Gesundbrunnen.
Der Letraset-Klassiker Octopuss mit entsprechenden Fräsungen an der Pankstraße. Trotz (oder wegen?) des Denkmalschutzes ist leider an vielen Bahnhöfen der Gesamteindruck nicht gerade prächtig.
Wieder Letraset, diesmal die Windsor Outline – vorbildlich zugerichtet, trotz Fliesenmuster. „I cannot prove this assumption but Rainer Gerhard Rümmler must have had a Letraset catalogue“, mutmaßt Jesse.
Die Ionier wären gern am Alex ausgestiegen …

Mit Fritz und Flo durch den wilden Wedding

Der Wedding Walk überzeugte durch Wildheit, optisch und akustisch, durchsetzt von erholsamen Zwischenetappen: bei den Spaziergängen durchs ruhige Grüne entlang der Panke konnten sich Augen und Ohren erholen und die Partizipierenden plaudern. Apropos Partizipierende, wer war dabei? Wir bauten spontan eine Vorstellungsrunde ein und prompt fanden sich Querverbindungen, gemeinsame Bezugspunkte, etwa zu den Studienorten Potsdam und Weimar. Zurück in den Wedding: In Ermangelung dichtgesäter historischer Schriftbeispiele bezogen unsere Spaziergangsleiter Architektonisches in den Rundgang ein, das war lobens- und lohnenswert.

Fritz Grögel und Florian Hardwig waren bestens vorbereitet. Sie brillierten mit historischem Wissen – und mit ihren Laminaten: in Laminatfolie eingeschweißte, ergo regensichere Schrift- und Schautafeln in DIN A4, die sie auch im kurzzeitig einsetzenden Nieselregen schadlos herumreichen konnten.

Gleich zu Beginn eine traurige Anekdote. Das schöne Logo für öffentliche Bibliotheken, stilisierte Seiten eines aufgeschlagenen Buches, dazu der Schriftzug Bibliothek im gleichen Leuchtblau, ist nur noch in Form von Restbeständen in Gebrauch (wir fanden es mehrmals auf unserem Weg). Die Marke entstand 1977 für das Deutsche Bibliotheksinstitut; dieses wurde 1999 aufgelöst und die Marke 2009 gelöscht. Wie schade. Memo: Die Bildmarke dient(e) als Wegweiser und Kennzeichen für ein kulturelles Angebot, das kaum Geld kostet und für jeden Menschen frei zugänglich war – und ist. Wir statteten einer Bibliothek am Wegesrand einen kurzen Besuch ab, ehrenhalber und weil manche zum WC mussten.

In Erinnerung bleibt aber auch das großartige Logo der Malzbierbrauerei Groterjan, das in Metall von fast einem Meter Durchmesser am ehemaligen Firmengebäude prangt. Dazu passend zeigten Fritz und Flo Plakatschriften der Zeit, als bekannteste wohl Louis Oppenheims markante Fanfare, die in den 1920er Jahren populär wurde. An der Seite des Firmengebäudes , leider schon recht abgeblättert, noch ein ein Groterjan-Schriftzug. Wir waren beeindruckt von den zum Teil auch kalkulatorisch kühnen Experimenten früherer Entrepreneure, etwa dem Architekten mit den bunt glasierten Fassadenfliesen und den Heilwasserproduzenten auf der Badstraße, die selbiges Heilwasser auch dann noch berlinweit vertrieben, als die Heilquelle, vielmehr der Gesundbrunnen, längst geschlossen war. Nun wissen wir, woher die Straße und der Stadtteil ihre Namen haben. Warum allerdings hieß das Kino an gleicher Stelle Marienburg? Egal. Wir haben gelernt, dass es an so manch öffentlichem Ort, Kaffee- oder Biergarten statt Ausschank (mangels Schanklizenz) Kaffeeküchen gab, an denen sich die Besuchenden ihren mitgebrachten Kaffee selbst zubereiten konnten.

Zum krönenden Abschluss besuchten wir ein sensationelles Ensemble von ineinander übergehenden Handwerkerhöfen, die, noch nicht saniert, kreativ und subkulturell genutzt werden. Innerhalb des Ensembles fanden wir uns in einer noch ursprünglich erhaltenen Hofdurchfahrt wieder, für viele das Glanzlicht unserer Tour: gleich vier Wandbereiche voll hundert Jahre alten Inschriften, von kundigen Schildermalern direkt aufs Gemäuer angebracht, Schriftzüge, die mit Dauer der Betrachtung und dank der kundigen Erläuterungen unserer Schriftspaziergangsleitenden immer interessanter wurden. Dies gilt für den gesamten Wedding Walk (Nachbericht und Bilder vom letzten Mal) – wie auch für unsere anderen Spaziergänge durch die Schriftlandschaft Berlins.

Ein Format, das wir mit Sicherheit wiederholen werden!

Auftakt vom Wedding Walk an der ehemaligen Malzbrauerei Groterjan
Wegweisendes Logo für die kostengünstigsten, niedrigschwelligsten aller Kultureinrichtungen
Lettering am Rande, man beachte den schönen Apostroph.
Wir vom Wedding Walk hätten uns hier allemal einen Kaffee gekocht, wäre diese Küche noch öffentlich und geöffnet (und wir nicht auf den Prater Biergarten eingestimmt) gewesen …
Fritz hält die Gruppe zusammen und auf dem laufenden, denn …
… wir nähern uns dem buchstäblichen Höhepunkt der Tour in einer Hofdurchfahrt der durchwanderten Handwerkerhöfe.
Wenn doch heutige Schnellsprayer bitte die Arbeit ihrer Kollegen Schriftmaler von vor 100 Jahren verschonen würden. Wenn doch die Stadt Berlin die Wände z. B. dieser historischen Hofdurchfahrt schützen würde. Vieles geht leider von alleine kaputt, auch ohne Renovierung – solche Schriftzüge fanden sich noch in den 1990er Jahren massenweise in Mitte und Prenzlauer Berg. Verena Gerlach hat sie in ihrem Buch und der gleichnamigen Schrift Karbid konserviert, Fritz Grögel daran mitgearbeitet, er zeigt das Buch herum. Die zwei mitgebrachten Exemplare werden ihm sofort abgekauft.
Dynamische, fast schon exzentrisch anmutende Beschriftung in hundertjährigem Backstein –
… aber bei der postalischen Großannahme in den 1970er Jahren, kurzer Blick zurück genügt, reichte es dann nicht mal mehr für ein Eszett. Berlin halt.

Vielen Dank allen Type Walk Guides und allen, die mitgegangen sind! Das Format werden wir bestimmt mal wiederholen. Im Prater-Biergarten an der Kastanienallee gab es zum Finale ein großes Hallo, angeregten Austausch und einen gemütlichen gemeinsamen Ausklang in großer Runde.

Nachbericht 121. Typostammtisch: Bye-bye Buchstabenmuseum

Es war ein trauriger Anlass, aber ein sehr schöner Abend. Zum 20-jährigen Jubiläum und zum vorerst letzten Mal fand sich die Berliner Schriftgemeinde im Buchstabenmuseum unter den Bögen des S-Bahnhofs Bellevue ein; die große Eingangshalle war bis auf den letzten Stehplatz besetzt. Volles Haus!

Barbara Dechant, Inhaberin der wahrscheinlich größten Sammlung gebauter Buchstaben der Welt und dereinst zusammen mit Anja Schulze Gründerin des Museums, berichtete mit ihrem buchstäblichen Weggefährten Till Kaposty-Bliss zusammenfassend aus ihren Erinnerungen, aus der wildbewegten Geschichte der Sammlung und des Museums. Die Rede war sogar von einem gedankenlosen, kindischen und höchst kostspieligen Buchstabenraub, verbrämt als Kunstaktion, vor allem aber von besonderen Fundstücken, von Buchstabenbergungen unter widrigen und fröhlichen Umständen bis hin zu gewagten Rettungsaktionen, egal bei welchem Wetter. Die diversen Umzüge kosteten besonders viel Arbeit und wurden von vielen helfenden Händen begleitet. Das Buchstabenmuseum ist ein eingetragener Verein und viele der Mitglieder beteiligten sich nicht nur mit den mindestens 26 Euro pro Jahr, sondern halfen tatkräftig mit, trugen Buchstaben von A nach B, bauten Ausstellungen auf oder um, strichen Wände. Es ist seltsam, dies nun in der Vergangenheitsform schreiben zu müssen.

Die letzten Tage sind angezählt.

Die gute Nachricht ist, dass das Museum als Sammlungslager vorerst bestehen bleibt. Auch der Verein hat weiterhin Bestand. In absehbarer Zeit muss ein neuer, dauerhafter Verwahrungsort für die prächtigen, aber sperrigen, zum Teil sehr großen Lieblinge gefunden werden. Bis dahin soll es noch mindestens eine Sonderverkaufsaktion überzähliger Buchstaben und Inventars an interessiertes Publikum geben. Auch haben vereinzelte Berliner Museen Interesse an für sie thematisch passenden Teilbeständen der Buchstabensammlung bekundet; Barbara Dechant zieht mittelfristig diese Möglichkeit in Betracht – besser, als die ganze Sammlung zu zerpflücken und in ihre Einzelteile aufzulösen. Selbstverständlich wäre es ihr lieber, und allen Buchstabenfans ebenso, dass diese weltweit einmalige, historische Sammlung gebauter Lettern im Ganzen erhalten bleibt. Vielleicht findet sich doch noch ein finanzstarker Sponsor, eine Käuferin, eine Institution, die die komplette Sammlung erwirbt und das Museum wiederaufleben lässt?

Das Buchstabenmuseum Berlin ist nur noch bis Sonntag, den 5. Oktober geöffnet!

Bericht und Bilder aus der bewegten Museumsgeschichte, zusammengefasst von Buchstabenfreundin und (natürlich) Vereinsmitglied Sonja Knecht: Große Buchstaben, große Liebe

Ein paar Erinnerungen an den Abend vom 7. August 2025:

Jubiläum und Abschied – und Neubeginn?
Stadtbahnbogen 424, 10557 Berlin – volles Haus an jetzt schon legendärer Adresse …
Museumsgründerin Barbara Dechant (hier im Interview vom Museumsverband) und Vorstandsmitglied Till Kaposty-Bliss atmen zu Beginn des Abends noch einmal tief durch.
Publikum auf der Innenseite der Eingangshalle mit einem besonderen Hingucker im Hintergrund.
Alle Fotos: Team Typostammtisch

Nachbericht 118. Typostammtisch: Berlin goes Potsdam

Neue Aufkleber von Samira Rehmert und Lukas Horn 🔥

Der Frühling trägt die Leute raus – sei es nach Kopenhagen, wo sich viele aus der Typostammtischcommunity von der zeitgleich stattfindenden ATypI inspirieren lassen – oder, nur ein paar S-Bahnstationen entfernt, nach Potsdam, wo es nicht minder spannende Schriftinhalte zu sehen und zu hören gibt. Auch viele Potsdamer·innen nutzen das nahe Gastspiel; glücklich, dass der Weg für sie ausnahmsweise mal kürzer ist.

Der Typostammtisch ist zu Gast am Fachbereich Design der FH Potsdam. Dort wird an diesem Abend die Ausstellung Further Reading eröffnet, die Studierende unter der Leitung von Prof. Christina Poth und Prof. Susanne Stahl konzipiert haben. Dazu später mehr. Zunächst einmal ganz herzlichen Dank, dass wir kommen durften!

Aufbau der Ausstellung
Ankommen des Publikums

Als Einstieg in die Tandem-Veranstaltung gibt es einen Typostammtisch-Vortrag von bekannten Gesichtern: Oliver Johannsen und Martin Gnadt. Die beiden haben schon einmal einen tollen Graffiti-Spaziergang rund um den Mauerpark für den Typostammtisch organisiert. Oli präsentierte außerdem gemeinsam mit Reinhard Deutschmann in unserem Bücherkurzvorstellungsformat das Magazin „Hypergraphie“.

Heute treten Martin und Oli als Teil eines Potsdamer Kollektivs auf: Seit 2020 organisieren sie das Hypergraphia-Festival auf dem Freiland-Gelände in der Nähe des Hauptbahnhofs. Und ja, richtig vermutet, das hängt mit dem erwähnten Magazin zusammen.

Oliver Johannsen und Martin Gnadt

Die beiden stellen sich vor (FH Potsdam-Absolvent Oli, Dozent-Student Martin) und stellen auch gleich klar, dass „Hypergraphia“ nicht Englisch, sondern Deutsch [hyːpɐˈɡʁafia] ausgesprochen wird. Sorry, offensichtlich sind wir seit Scooter so sehr an die englische Aussprache von „Hyper (Hyper)“ gewöhnt. Nächste Korrektur: Es geht nicht um Street-Art, sondern um Urban-Art – ein umfassenderer, wertschätzenderer Begriff, den wir gern ab sofort benutzen. Außerdem erfahren wir, was es mit dem Namen des Festivals auf sich hat. Dieser leitet sich nämlich von „Hypergrafie“ ab, einem manischen Schreibzwang. Zunächst gab es das gleichnamige Magazin, aus dem ein Schriftprojekt entstand, und im Folgenden ein ganzes Festival – Hypergraphia, das diverseste Graffiti-Festival Europas!

Die Schrift als Klammer verschiedener Unternehmungen

Martin und Oli geben einen Überblick, was sich seit ihrem Einstieg 2020 in Sachen Hypergraphia-Festival getan hat. Wir sehen Fotos aus den vergangenen Jahren, die sofort Lust auf Sommer und Schreiben machen. Außerdem erfahren wir etwas über das Freiland-Gelände, das dank unterschriebenem Erbpachtrechtvertrag für die nächsten 66 Jahre sicher betrieben werden kann. Keine schlechte Grundlage in diesen Zeiten! 

Die beiden nehmen uns mit in die Entstehung der jährlich wechselnden Corporate Designs des Festivals. Alle arbeiten mit der selben Schrift, einer schablonierte Interpretation der DIN 1451 (einst Normschrift für Verkehr und Logistik) in unterschiedlichsten Facetten, Defragmentierungen und gestalterischen Schwerpunkten. Außerdem erfahren wir von Battle-Disziplinen (Taggen, Throw Up, Bierkasten, 2m Abstand zur Wand, so hässlich wie möglich, malen per Overhead-Projektor-Projektion auf Häuserwände), der Broken-Windows-Theorie (kritisch zu betrachten!) und der Buchempfehlung Calligrafitti von Nils „Shoe“ Meulmann. 

Nachdem das Festival und die Organisator·innen 2024 pausierten, geht es 2025 mit neuem Team vom 12. – 14.09.2025 auf dem Potsdamer Freiland-Gelände weiter (Updates am besten hier). Leidenschaftlich rufen Martin und Olli dazu auf, das Event zu unterstützen, sei es mit Geld- oder Sachspenden (Siebdruck-, Schalungsplatten oder anderes geeignetes Material), oder personeller Unterstützung (Licht, Musik, Planung). Ein großer Fokus wird dieses Jahr darauf liegen, noch mehr FLINTA*-Personen eine Bühne zu geben. Unterstützung und Teilnahme wärmstens zu empfehlen!

Spendenkampagne: Graffitiwände erneuern
Spendenkampagne: Freiland-Gelände unterstützen
Mitmachen/Sachspenden: gern per Mail melden!

Für den zweiten Teil des Abends verlassen wir das Fotostudio – Getränke sind dort schließlich verboten – und hören gespannt den Professorinnen Christina Poth und Susanne Stahl im Foyer zu: Sie stellen die Ergebnisse des Hauptprojekts Further Reading vor. Es geht um Sprache als mächtiges Tool zur Inklusion, um die Grenzen zwischen Leserlichkeit und Unleserlichkeit, um einfache und gendergerechte Sprache. Die Ergebnisse, die wir anschließend in der Ausstellung besichtigen können, erkunden das Thema auf sehr breite Art und Weise und laden durch verschiedene Perspektiven ein, sich mit in- und exkludierenden Elementen von Texten auseinanderzusetzen.

Prof. Susanne Stahl und Prof. Christina Poth eröffnen die Ausstellung
Fotos: FHP / Hanna Hauten

Die Ausstellung ist noch zu sehen bis zum 09.05.2025. Die zweite Potsdam-Empfehlung dieses Nachberichts!

Einfach mal raus, den Kopf lüften, sei es in Berlin, Potsdam oder Kopenhagen. Einen schönen Frühling wünschen wir.

Nachbericht 117. Typostammtisch: Type Crit IV

Type Crit, die Vierte! Wer es an diesem kalten Februar-Abend trotz des Regens zu LucasFonts geschafft hat – dem Atelier für Schriftentwurf von Luc[as] de Groot und Team, in dem der Typostammtisch öfter zu Gast sein darf – wird in gemütlicher Atmosphäre empfangen. Auffallend viele sind an diesem Abend zum ersten Mal beim Typostammtisch, einige von ihnen „wurden mitgebracht“, wie jemand auf Nachfrage antwortet – wie schön, wir freuen uns über Zuwachs! Große Tische stehen schon bereit, auf denen später über mitgebrachte Schrift- und Codingprojekte diskutiert und aus vielen Perspektiven Feedback gegeben wird.

Konkret bedeuten die erwähnten Perspektiven: Sechs Expert·innen stehen an diesem Abend Rede und Antwort! Amélie Bonet beginnt an diesem Abend mit einer Kurzvorstellung – geboren in Paris ist sie nach acht Jahren in London und Berlin bei Dalton Maag und Monotype mittlerweile selbstständige Type Designerin und Font Engineer und arbeitet mit diversen Skripten, wie etwa Devanagari oder Bengali. Danach lauschen alle gespannt Rosalie Wagner, ebenfalls französische Type Designerin und Font Engineer – auch sie arbeitet nach vier Jahren bei Google Fonts mittlerweile selbständig. Quasi ein Heimspiel ist der Abend für Jens Kutílek, denn er arbeitet bei LucasFonts – er erzählt von seinem speziellen Interesse für Schreibmaschinen und Fonts mit besonderen Spezifikationen, „alles was nicht ganz normal ist“, so sagt Jens. Petra Rüth arbeitet als Font Engineer bei Monotype – mit Petra hat diese Type Crit eine Expertin wenn es um gebrochene Schriften geht! Natürlich nicht nur als Host und Typostammtisch-Kernmitglied sondern ebenfalls als Experte und Kritiker mit viel Erfahrung vertreten ist Type Designer Luc[as] de Groot. Kurz vor Beginn kommt noch unser sechster Experte mit dem Fahrrad durch den Regen und dann zur Tür herein gestürmt, Georg Seifert, das Gesicht von Glyphs und die perfekte Person, wenn es um die Schnittstelle aus Schrift und Code geht. So kann der Abend anfangen!

Einen ganz herzlichen Dank an alle Expert·innen, die konzentriert, ausführlich und bis spät in den Abend Entwürfe besprochen haben – ohne Euch wäre dieser Abend nicht möglich gewesen. Danke an alle, die ihre Entwürfe mitgebracht und die Chance zum Besprechen genutzt haben – teilweise sogar bei ihrem ersten Typostammtisch-Besuch. Auch einen ganz herzlichen Dank an Luc[as] de Groot und Team für die gemütliche Unterbringung im Studio! Und nicht zuletzt ein Dankeschön an alle, die zum Zuhören gekommen sind und den Abend mit interessanten Gesprächen belebt haben. Es war wie immer eine große Freude!

Lukas Horn eröffnet den Abend
Nicht lang und alle Tische sind besetzt
Amélie Bonet (re.) konzentriert beim Feedback Zeichnen
Luc[as] de Groot (re.) im Gespräch
Zwei konzentrierte Expert·innen dicht nebeneinander: Petra Rüth (mi.) und Jens Kutílek (re.)
Georg Seifert (li.) im Gespräch
Gespräche mit Rosalie Wagner (li.) und Amélie Bonet (mi.) spontan auch auf Englisch und Französisch
Private Crit I
Private Crit II
Feedback gab es bis spät in den Abend

Nachbericht 114. Typostammtisch: Typewalk 2024

Fritz Grögel und Florian Hardwig, die Typostammtisch-Experten für erweiterte Zeichenerkennung, teilen ihre Leidenschaft für die gediegene Beschriftung und Stadtgeschichte Berlins mit uns, diesmal und erstmals in den Ortsteilen Gesundbrunnen und Wedding.

Ganz links im Bild Fritz-Prince Boateng 🙂

Los geht’s gegenüber der U-Bahn-Station Pankstrasse mit dem fast schon historischen Graffito „Gewachsen auf Beton“. Dieses bereits leicht ausgeblichene Wandgemälde ist ein Wahrzeichen des Wedding geworden. Entstanden ist es ursprünglich 2013 als Ambient-Marketing im Auftrag eines amerikanischen Sportartikelherstellers und zeigt die 3B-Halbbrüder Jérôme (der Fußball-Profi), George (der Rapper BTNG) und Kevin-Prince (ebenfalls Fußball-Profi). Der Schwellstrich des Sportartikelherstellers ist bereits verschwunden, und Jérôme hat durch eine Farbbombe mittlerweile eine rote Backe bekommen. Von George BTNG erschien 2015 in Anlehnung an das Kunstwerk das Album „Gewachsen auf Beton“.

(Foto Originalzustand: Wikipedia 2013 von OTFW, Berlin)
Firmenschild Groterjan

Ein echter Hingucker ist das Firmenschild der Malzbier-Brauerei Groterjan (Großer Jan) in der Prinzenallee von 1929. Das Markenzeichen wurde von Louis Oppenheim entworfen. Die Schriftttype erinnert an die Neuland von Rudolf Koch als eine zeittypische Schrift des Expressionismus, und auch die Druckschrift Fanfare von Oppenheim selbst ist stilistisch nicht weit davon entfernt. Das Gebäude der Brauerei wurde vom Architekten Carl-Emil Bruno Buch 1927–1929 erbaut.

Vorbei an der Tresorfabrik Arnheim, heute Bildhauerwerkstatt, ging es zum Luisenhaus des Zimmermanns und Unternehmers Carl Galuschki mit seiner prachtvollen ornamentalen Klinkerfassade.

Unter den Grundmauern befindet sich hier die bereits versiegte Luisenquelle, der ursprüngliche Gesundbrunnen, der namensgebend für den Ortsteil Gesundbrunnen wurde.
Viele interessante historische Details und schöne Bilder über die wechselvolle Geschichte sowohl der Quelle des Friedrichs-Gesundbrunnens (heute Luisenbad, dazwischen Marienbad) bis zur Mineralwasserabfüllung als auch die wechselvolle Nutzung des Gebäudes, vom Gasthaus über ein Theater und Kino bis hin zur heutigen Nutzung als Bibliothek, werden von Fritz Grögel mit Folienunterstützung kundig und versiert dargebracht. Bier gebraut aus Heilwasser ist eine der Anekdoten, die auf dem Gaumen zergehen.

»Hier können Familien Kaffee kochen«

Die Kaffee-Küche war ein Anbau an das Vestibül von 1905, verkleidet mit den für den Bauherrn Galuschki typischen bunten Klinkern.
Die Gäste konnten bei den Altberliner Ausflugslokalen selbst Kaffeepulver und Speisen mitbringen, der Betreiber stellte gegen Entgelt nur das heiße Wasser und das Geschirr zur Verfügung. Dieser Brauch hat seinen Ursprung um 1800 in Treptow, weil die Gastwirte keine Getränkekonzession bezahlen wollten.

Das Amtsgericht Wedding von 1901 mit seiner neugotischen Fassade zeigt die in Stein gemeisselten Namen der Gesetzbücher, vom Corpus Juris Civilis bis zum Sachsenspiegel in einer Textura, aber ohne die korrekte Verwendung des langen s.

Amtsgericht Wedding
Der Schattenwurf der Bäume fügt eine Ebene mehr hinzu

Das Mural „absent“ des Künsterkollektivs Innerfields auf der Feuermauer an der Walter-Röber-Brücke (Wiesenstraße 44) zeigt ein Paar in inniger Umarmung, als Gegenstück des Kunstwerks „present“ in Kiew.

Vorbei am Obdachlosenasyl Wiesenburg ging es durch die Werkstätten des Nordens (die Höfe in der Gerichtsstraße 23), mit einer Beschriftung in dem Font „Metropolis 1920“ von 2012. Wie Florian Hardwig erläutert, während die Beschriftung oben am Gebäude zwar alt aussieht, aber neu ist, erscheinen die Beschriftungen in der Einfahrt zwar modern, sind aber alt.

Im Eingangsbereich der Werkstätten sind mehrere historische Schildermalerei-Beschriftungen aus der Zeit der 20er und 30er Jahre erhalten, die auch einen zweiten und dritten Blick in die Details der Schriftgestaltung mehr als wert sind.

Über den Nettelbeck-Platz, der bald einen neuen Namen tragen wird, ging es weiter in die Gerichtsstraße zum Eingang des Krematoriums Wedding von 1937 (heute Kulturquartier Silent Green, dort fand beispielsweise Berlin Letters statt). Die Beschriftung über dem Torbogen, halb versteckt unter Efeu, zeigt eine strenge, geometrisierte und vereinfachte Textura der Zeit.

Den Abschluss des Rundgangs bildete direkt gegenüber ein Backstein-Glanzstück in Klinkerziegeln. Das Postamt N 65 wurde 1926–1928 nach einem Entwurf des Architekten Wilhelm Tietze errichtet. Die Beschriftung „Postamt“ stammt von Walter Reger, Professor für Bauskulptur, der auch den darüber befindlichen Reichsadler aus Backstein-Pixeln kreierte. Reger schuf nicht nur die labyrinthische Beschriftung und den Postadler, sondern auch die ausdrucksstarke expressionistische Relieffassade aus Terrakotta und Backstein.

Das Abschlußfoto der Teilnehmenden, die trotz der Hitze bis zum Schluß durchgehalten hatten. Am Anfang waren es noch mehr. Danke Fritz und Flo, hat viel Spaß gemacht!

Der abendliche Ausklang des Typewalks (Buchstabenspaziergangs) als echter Typostammtisch war ein gemütliches Zusammensein im Eschenbräu bei vor Ort gebrautem Bier.

Wer weiß welche Schriften das sind?

Nachbericht 111. Typostammtisch: A Tribute to FontShop

Alle Schwarz-Weiß Fotos: Norman Posselt

Der Typostammtisch lädt zur FontShop-Retrospektive. In der vollbesetzten Udk-Aula breitet der heutige Talkmaster Jürgen Siebert die Geschichte des FontShops vor dem aufmerksam lauschenden Publikum aus – in a Nutshell sozusagen. Mit auf dem Podium: Ivo Gabrowitsch, Erik Spiekermann und Petra Weitz, die vom Talkmaster mit Stichworten versorgt werden und viele interessante, nachdenkliche und vergnügliche Anekdoten beizutragen wissen.

FontShop wurde 1989 in bewegten Zeiten gegründet. Und wer reißt da die Mauer ein?
Foto: Norman Posselt
Zunächst war FontShop ein einzelner Schreibtisch neben dem MetaDesign-Büro in der Motzstraße. Ende 1989 bezog das das Team dann ein Büro im einzigen Haus auf weiter Flur: Hier im Bild der erste Firmensitz auf dem damals beinahe unbebauten Potsdamer Platz. An die Zeit in der Motzstraße erinnert sich Petra:


„Da saßen wir nun in diesem kleinen Kabuff und haben darauf gewartet, dass jemand anruft und eine Schrift bestellt.“ 

Petra Weitz
Vom Mailorderversand mit Fonts auf Disketten zu einem der ersten Anbieter für Webfonts.


„Eigentlich haben alle im Versand angefangen.“ 

Petra Weitz

FontShop war der erste maßgeblich von den Designern geführte und gelenkte Schriftenvertrieb. Das Geschäftsgeheimnis? Laut Jürgen Siebert die Anpassung der jeweils neuen Technologien, immer in enger Zusammenarbeit mit den Schriftgestalterinnen und Schriftgestaltern.

Experimente, wie z.B. die Random-Fonts Beowolf (von Erik van Blockland und Just van Rossum, 1990) gehörten dabei genauso zum Leistungsspektrum …
… wie die exzessive Zweckentfremdung von OpenType-Features in der Diagrammschrift Chartwell (von Travis Kochel, 2012), um nur zwei innovative Beispiele aufzuzeigen.
Faxkommunikation zwischen Just van Rossum und Erik Spiekerchef. War damals so, das mit den Faxen.
Das Fontshop-Logo konnte aus verschiedenen Schriften bestehen und basierte auf aneinandergereihten Quadraten.


„Heute würde man dafür Design Thinking machen und zwei Tage aufs Land fahren.“ 

Erik Spiekermann
Das originale FontShop-Logo von Neville Brody (schwarz/rot) entwickelte sich zur allseits bekannten Farbkombination schwarz/gelb.
Doch, ein Chart weiter: Zwei F ineinander zu verschachteln, auf diese Logoidee kamen offenbar auch andere Unternehmen …
Welche Entwürfe wurden zu FontShop-Schriften? Darüber zu entscheiden, war Aufgabe des Type Boards. In wechselnder Besetzung wurden in dieser Runde regelmäßig Einreichungen begutachtet und das Programm kuratiert.

Zum Schriftenrepertoire haben die Podiumsgäste dabei durchaus unterschiedliche Erinnerungen:

Jürgen: „Das war minutiös geplant durch das TypeBoard.“
Darauf Erik: „Ich habe in meinem Leben noch nichts minutiös geplant.“

Auch Ivo plaudert aus dem Nähkästchen, zum Beispiel über Naming-Prozesse:


„Ich war kein großer Fan des Namens ‚FF Mark‘. Im Nachhinein ist es gut, dass die Schrift so heißt. Die Bedeutung ‚Trademark‘ bzw. ‚Marke‘ hatten wir nur beiläufig mitgedacht.“ 

Ivo Gabrowitsch
Der bereits erwähnte Neville Brody war Initiator des Magazins Fuse. Daraus entwickelte sich …
… die Fuse-Konferenz, ein internationales Zusammentreffen zur Typographie. Aus der Fuse wurde schließlich die Typo Berlin, zeitweise die größte Designkonferenz Europas.

Beim Q&A gibt es Aufklärung zu den verschachtelten und dramatischen Geschehnissen rund um den Verkauf. Ein Hauch von Kollektivaufarbeitung, 10 Jahre danach, mit durchaus emotionalen aber auch gereift-grasüberwachsen-milden Aussagen von Publikum und Podium. Oder wie Petra es formuliert:


„Entweder ihr glaubt es jetzt – oder nicht!“ 

Petra Weitz

Schwenk aufs Publikum mit einigen Diskussionsstreiflichtern: Die FontShop-DNA lebt in den vielen kleinen und größeren Vertriebsmodellen weiter. Das Verblassen von etwas Großem schafft Raum für viele Kleine, die ihrerseits wachsen können – und Fehler machen. Um Transparenz geht es auch: Die FontShop-Zeit (aber auch das letztliche Ende) als Beispiel für Unternehmertum, das nie welches sein wollte – aber die Rolle lernen musste. Zur Sprache kommen Naivität und Realität, geerntete Früchte und gekaufte Juwelen.

Deutlich wird an diesem Abend: FontShop war nicht nur durch die Schriften prägend für die Zeit. Es waren auch (und vor allem) die beteiligten Menschen, die im FontShop selbst oder in dessen Umfeld tätig waren, die das Unternehmen zu einem besonderen gemacht haben. Viele von ihnen sind an diesem Abend anwesend.

Einen ganz herzlichen Dank an:

unsere Podiumsrunde, namentlich Petra Weitz, Jürgen Siebert, Erik Spiekermann und Ivo Gabrowitsch, für eine toll vorbereitete Zeitreise und eure Offenheit. Danke an die Udk, dass wir die Aula nutzen durften und an Lucas de Groot, der seine bestens archivierte FontShop-Drucksachen-Sammlung zur Ansicht mitgebracht hat. Außerdem ein großes Dankeschön an Norman Posselt, der viele bekannte Gesichter und die Stimmung an diesem Abend so wunderbar eingefangen hat. Seine Bilder möchten wir euch nicht vorenthalten (und ihr könnt alle bei Flickr anschauen):

Nachbericht 110. Typostammtisch: Mark van Leeuwen & Savva Terentyev

Zunächst Neues aus der Kategorie „Speaker·innenessen“. Diesmal kredenzt Küchenchef Lukas Horn Hutspot (die holländische Version von Kartoffelbrei) mit kellereigenen Möhren der Eltern. Saulecker, pardon, und auch noch s… sehr passend, weil unser erster Sprecher Mark mit „van Leeuwen“ einen erkennbar holländischen Nachnamen hat. Savva Terentyev, unserem zweiten Sprecher, schmeckt’s ebenfalls. Uns sowieso – kann also losgehen!

Lukas ist heute Abend Multi-Funktionator. Neben der Rolle am Herd ist er gemeinsam mit einem unserer neuen Gesichter im Team, Samira Rehmert, Tandemverantwortlicher in Sachen Planung. Da Samira leider krank ist, moderiert Lukas. Zunächst kündigt er seinen Ex-Mitstudent an der FH Potsdam an. „Ich war neidisch, weil er so viel kann“, gesteht Lukas. Herzlich Willkommen beim Typostammtisch, Mark van Leeuwen!

Mark ist Gestalter mit italienisch-holländischen Wurzeln, der vor allem auf Instagram sehr sichtbar ist. Seinen Vortrag gliedert er in Intersektionen der Bereiche seiner Arbeit: Lettering, Type Design, Client Work, Free Work, Graphic Design. Stellt euch, mangels Foto, diese 5 Begriffe umrundet mit organisch geformten Bubbles vor, die sich überschneiden. 3 oben, 2 unten. Ups, wie durch Zufall blitzt auf der nächsten Folie das Logo der olympischen Ringe auf. Lustig. Aber diese schlau geplante Referenz deutet schon die Substanz der Arbeiten an, die Mark uns im Folgenden zeigt.

Los geht’s mit der Überschneidung der Bereiche Free Work und Graphic Design. „Das war meine Mosaik-Phase“, meint Mark trocken. Wir sehen Grafiken, bei denen jedes einzelne Mosaikteil einzeln in ProCreate arrangiert, dann in Adobe Photoshop coloriert wurde. Nachdem er diese freie Arbeit auf Instagram gezeigt habe, wurde genau dieser Stil für eine Buchcover-Reihe angefragt. „Es war eine Höllenarbeit“, kommentiert Mark. Das Projekt dauerte insgesamt 3 Jahre, zum Glück nahm die Buchstabenanzahl der Buchtitel aber ab (denn selbstverständlich sind auch die Buchstaben handgemacht).

Eins führt zum anderen: Freie Arbeit führt zu …
… Auftragsarbeit – führt zu …
… mehr Auftragsarbeit.

Bei der folgenden Intersektion aus Lettering und Type Design entstanden aus Letterings ganze Schriften. Mark zeigt hier die Oakley, eine organisch-warme Hommage an die 60er und 70er Jahre, und die Aespira, eine grazile Kontrastreiche mit einer lebhaften Italic inklusive Swash Caps.

Die nächste Schriftfamilie Cortese wiederum ist ein Beispiel für die Überschneidung der Bereiche Type Design und Client Work. „Die Cortese ist mein erstes Revival“, sagt Mark. Nämlich das der Cortez, einer Letraset-Schrift von Philip Kelly, entstanden 1977. Die Neuinterpretation kommt mit vielen Schnitten, Alternates und ist im großen Stil geeignet für Heavy-Metal-Anwendungen jeder Art. Man kann sich dahingehend auch mal auf Marks Webseite umsehen, das macht richtig Spaß! 🤘

Weiter geht’s mit dem Bereich Graphic Design (Überschneidung vergessen!) und dem Projekt „Read my Lips“, entstanden in Zusammenarbeit mit einem Kommilitonen an der FH Potsdam. Gemeinsam wollten sie Zwischentöne der non-verbalen Kommunikation sichtbar machen. Was geht verloren, wenn wir nicht live miteinander sprechen? Naheliegende Schlussfolgerung: Die Bewegung des Mundes. Also haben die beiden Lippenbewegungen beim Sprechen abgefilmt und vermessen. Ja, vermessen. Wir sehen Parameter in Tabellen – „3 Semester sahen so aus“, sagt Mark. Die Daten übertrugen sie dann auf die entsprechenden Laute in der Schrift, was dazu führt, dass Laute, bei denen der Mund eher offen ist (wie a, e, i, d), in der entstehenden Schrift dünner sind. Laute, die mit eher geschlossenem Mund gebildet werden, erscheinen dagegen fetter und schwärzer. Da natürlich verschiedene Münder vermessen wurden, ist ein Variable Font entstanden, der kontinuierlich „wabert“. Ziel sei es, so Mark, eine Anwendung zu bauen, die diesen Prozess individuell umsetzen kann. Jeder Mund bekäme eine eigene Schrift. Eine große Aufgabe und ein zaghafter Aufruf ins Publikum, sich mit ihm kurzzuschließen, wenn da eine Zusammenarbeit möglich ist. Ansonsten schließt Mark das Thema lapidar: „Es hat schon einen Grund, warum wir jetzt anderthalb Jahre nicht an dem Projekt gearbeitet haben …“

Zeit für Fragen (Wie viele Arbeitsstunden stecken in dem Mosaik-Covern? Inhaltliche Herleitung Mosaik-Cover? Welcher Verlag? Nachfragen zu einem 3D-Chromeoptik-Cover, das Mark gezeigt hat …). Fazit: Wir sind alle neidisch, nicht nur Lukas, auf so tolle und vielfältige Arbeiten schon mit Mitte Zwanzig. Vielen Dank und viel Respekt, Mark!

After a short break (which we can use to thank Luc(as) de Groot and his team to once again host a Typostammtisch in their nice office), we welcome our second speaker, publisher of musical editions and jazz pianist Savva Terentyev – and we switch to English because Savva does so, too. His lecture will be all about musical typesetting, which he prefers to do manually. “If you have read this, you are acquainted with 50% of literature ever published on the design of music typefaces”, he comments one of the first slides containing some basic information on musical notation. “… Well, maybe 30%.” Wow. At least for the author of this text (who has nothing but little school-based knowledge on the topic, contrary to a lot of people in the audience) it seeeems to be a bit more complicated looking at the given examples. So let’s double knowledge!

In the following, Savva gives us an overview of the literature landscape concerning musical notation. Question to the audience: “When do you think the first English-language book on the production of printed music came out?” We have a guess at 1500. Another one says “If you are asking like that I’d say 1920”. Bingo! It was not earlier than 1923. Considering the fact that one of the first English-language books on printed matter was published 340 years ago (Mechanick Exercises or the Doctrine of Handy-works by Joseph Moxon, 1684), this is quite late. Savva says that a general early œuvre would be very helpful, similar to the Manual of Typography by Giambattista Bodoni (1818). He also takes Trajan’s column as reference for the Latin script: something it started with, something everybody can relate to. Basically, Savva is looking for historical roots of his deep passion. Indeed, in a book shelf picture we see that the respective section in his shelf is rather sparsely filled. To our advantage, he’s able to bring some of these treasures with him tonight (find a comprehensive literature list on Savva’s Patreon page). After the talk, everybody is invited to take a look at the books and Savva’s own publications.

Picture: Savva Terentyev

Another good source is a collection of historical specimen provided by Stephen Coles and Caren Litherland on Typographica. You can find lovely musical engraving in a lot of these type specimens. Savva states that when listed chronologically, 12 out of 15 of the earliest specimens (i.e. from American Type Founders) contain examples for music type. This is kind of a discrepancy on the rather sparse literature covering the topic. The routine of putting musical notation in type specimens stopped around 1905.

Then, Savva explains the logic of a music engraver. The lines were carved, whereas the notes and signs were punched. Today, type designers design notes and the lines are done by the software which rather leads to conflicts from Savva’s perspective. Now and then, he walks over to the chalkboard to explain some basics (the author wanted to double knowledge, remember?!). Notes consist of a notehead, a steam and a beam which can have different directions. He also zooms into musical notation and shows us especially designed notes with a smooth joint between stem and notehead (audience is like: “Ahhhh!“).

There’s a question from the crowd. “Can you please show your work?” – Of course. He shows A transcription of Samsara, a piano piece in two parts composed by Tigran Hamasyan (yes, the title is that long) and explains that you can set notes more or less free but you always have to keep an eye on the page turn. In text setting, separating in the middle of a word or a sentence is mostly not a problem but in musical setting, you have to turn the page when the musician has the time to turn the page. Savva also shows an example where a comprehensive piece was limited to 8 pages which led to very tight spacing between the notes – being his preferred style anyway.

Following up on this, another question from the audience: “What is readability when it comes to notes? Which are the parameters?” A very lively discussion with professional musicians and people from the music notation scene follows, essentially centering around the question whether or not to use music notation software for projects or set the notes manually. Amongst others, we welcome back Werner J. Wolff, who talked at Typostammtisch about this very topic back in 2013. It’s great to see that Typostammtisch is an opportunity for professional exchange now as before, that’s what is was introduced for. We really hope that protagonists can foster this exchange beyond Typostammtisch.

By the way, it would be interesting to see a composer putting this evening’s mood into a piece of music and then different approaches in setting its transcription.

It was a remarkable evening. THANK YOU to everybody involved.

Photos unless stated otherwise: Luc(as) de Groot

Nachbericht 109. Typostammtisch: Typostammquiz 2023 zum Nachraten

Wenn ihr nicht dabei sein konntet, weil ihr

a) die Büroweihnachtsfeier nicht schwänzen konntet (oder wolltet),
b) eure fiese Erkältung im Bett auskurieren musstet,
c) euch bei angekündigtem S-Bahnstreik den nächtlichen Rückweg nicht antun wolltet,
d) einen anderen Grund hattet,

… haben wir einen besonderen Service für euch: Das Quiz erstmals zum Nachraten! Schließlich ist Weihnachten das Fest der Nächstenliebe – und des typografischen Erkenntnisgewinns.

Um euch in die richtige Ratestimmung zu versetzen, geben wir euch vorab noch etwas visuellen Kontext. Gemütlich war’s bei LucasFonts; mit Knabbereien auf den Tischen, dampfendem Glühweintopf an der Bar und flauschigem Schummerlicht.

6 Teams finden sich nach dem Losprinzip zusammen und nehmen Platz. Aus dem allgemeinen Gemurmel tönt es: „Gruppe f zum Dopingtest!“

Die Fragen haben Andreas Frohloff als Vertreter der letztjährigen Gewinnergruppe, sowie ergänzend Anja Meiners und Stefan Pabst vom Typostammtisch-Team vorbereitet – last minute sozusagen, denn die Krankheitswelle machte weder vor Team Fragen noch vor Team Typostammtisch halt. Einen Quizausfall allerdings wollten alle Beteiligten vermeiden.

Und hier kommen sie nun, 25 Vorrunden- und 6 1/2 Finalfragen, für euch interaktiv aufbereitet. Nur Punkte zählen müsst ihr selbst. Also schnappt euch eure liebsten Kolleginnen und Kollegen oder klickt euch alleine durch (Klick auf die gelbe Frage öffnet die grüne Antwort, dann keinesfalls auf den Pfeil nach rechts klicken, sondern Pop-Up wieder schließen – sonst Spoiler). Viel Spaß!

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Nachbericht 108. Typostammtisch: Verlagsabend

Books, Books, Baby! Der erste Verlagsabend in der an tollen Abenden nicht eben armen Geschichte des Typostammtischs Berlin war besonders beglückend. Im Vorfeld hatten wir Kontakt zu einigen Independent-Verlagen, vornehmlich Literaturverlagen, und vorrangig ansässig in Berlin. Nun durften wir namhafte Verleger·innen und eine Künstlerin-Grafikdesignerin live begrüßen: Am Hightech-Overhead-Projektor bzw. unserer Überkopf-Kamera blätterten sie sich und ihre Bücher auf (Grüße aus der Wortspielhölle). Dieserart bekamen wir fundiert Einblick in ihre typo-/grafische Arbeit, naturgemäß immer verbunden mit dem Inhalt. Form follows Content, denn die UX von Büchern ist Lesen. Anschauen und anfassen natürlich auch. Oft kamen die Gesamtmaterialitäten ins Spiel. Aber der Reihe nach. 

Bei Käsewürfeln und Kürbissuppe vorab – ihr wisst, „Speaker·innen·dinner“ wird bei uns groß und immer mal wieder anders geschrieben – wurden wir warm miteinander. Im Gespräch kommen wir auf Lyrik-Wrestling, Schachboxen und die Surfpoeten. Büchertisch belegen, Porträtfotos machen, und los. Der Saal füllt sich. 

In Abwesenheit: Trottoir Noir und Ritter Verlag

Moderatorin Sonja Knecht macht selbst den Auftakt, denn Marcel Raabe von Trottoir Noir, Leipzig, in Personalunion Verleger und Autor, liest zeitgleich in Erfurt. Er hatte vorab Bücher und Verlagsmaterial geschickt – ebenso wie Franziska Füchsl, Gestalterin des bei ihm 2021 erschienenen, von Clemens Böckmann herausgegebenen Gedichtbandes Alvaro Maderholz, Springer_Innen („ein kleines Juwel abseits des Bekannten“, so ein Rezensent der FAZ; hier geht es zur Rezensionsnotiz beim Perlentaucher). Vorab kam Franziska Füchsl zum Kennenlernen, dann wurde sie krank – hatte uns aber als persönliche Gastgabe, denn auch sie ist Autorin, ihr Buch Tagwan mitgebracht. Es erschien im Ritter Verlag, Klagenfurt 2020. Hier eine Rezension in der NZZ.

Damit all diese Liebevolligkeit nicht verpufft, stellt Sonja die beiden Bücher dennoch vor, oder anders: schwärmt hemmungslos für die Inhalte und überhaupt für die Tatsache ihrer Herausgabe (vom Maderholz-Bändchen) sowie für den sprachlichen Formwillen, ergo Gesamtgestaltung (Tagwan von Füchsl). Bei Springer_Innen geht es um die Poesie des Skispringens, von einem, der selbst Skispringer war. Der Band ist garniert mit der berührenden Geschichte von Eddie the Eagle, einer ebenso solitären Gestalt wie Autor Alvaro Maderholz; das Vorsatzpapier mit Zeichnungen einer DDR-Briefmarken-Sonderedition zum Skispringen. Sieht toll aus. „Sieht komisch aus mit der Hand. Vor allem, wenn sie so zittert“, kommentiert Sonja den Bildausschnitt der Überkopf-Kamera, die Buch und Hand an die Wand projiziert. Die Aufregung. Schaut euch den schönen Band und überhaupt das Programm von Marcel Raabe, Trottoir Noir an; er operiert unter dem schönen Stichwort Aufzeichnungssysteme.

Für den kompakten, schlicht in Grau gepackten Gedichtband nutzt Gestalterin Franziska Füchsl die Schriften Livory von Hannes von Döhren und Livius Dietzel sowie Moncler Ultra Light von David Súid. Bei ihrem eigenen Buch Tagwan ist selbst die Anmerkung zur Typografie lyrisch – Füchsl nutzt eine Sprache, die mit regionalen Eigenheiten und Dialektwörtern spielt, und spricht etwa von den „gloschenen Unregelmäßigkeiten“ der Centaur, entworfen von Bruce Rogers nach Schriften von Nicolas Jenson aus dem 15. Jahrhundert und erstmals verwendet 1915 für Maurice de Guérins Text Le Centaur. Große Leseempfehlung für alle, die eine experimentelle, sinnliche, sehr körperliche Sprache lieben oder kennenlernen möchten: Es handelt sich bei Tagwan auf den ersten Eindruck um einen verrätselt wirkenden Prosatext voller Bilder und Sinneseindrücke, dessen einzelne Episoden sich im Weiterlesen zu einem biografischen Bericht zusammenfügen. Füchsl beschreibt Wahrnehmungen, die uns Handlungen und Ereignisse erahnen und an eigene Erlebnisse erinnern lassen: Tagwan von Franziska Füchsl. 

Dr. Rike Felka: Verlag Brinkmann + Bose

Zusammen mit Erich Brinkmann leitet Rike Felka den Verlag Brinkmann + Bose. Er ist für die Gestaltung verantwortlich, sie für Lektorat, Öffentlichkeitsarbeit, Übersetzung. Gemeinsam geben Brinkmann und Felka interdisziplinäre Theoriebücher (vornehmlich der Philosophie, Literatur-, Medien- und Filmwissenschaft) heraus. Was hier so trocken klingt, ist Legende – fortgeschrittene Leser·innen und Typografiebegeisterte erinnern sich. Der Berliner Verlag wurde 1980 von Günter Karl Bose und Erich Brinkmann gegründet und 15 Jahre gemeinsam geführt. Bose ging 1995 als Professor für Typografie an die Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. 1998 stieg Rike Felka ein. Zum 30-jährigen Bestehen von Brinkmann + Bose gab es 2011/12 die Ausstellung Double Intensity im Museum für angewandte Kunst in Frankfurt am Main und ein gleichnamiges Begleitbuch, 32,5 × 23 cm, 169 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen aus der Geschichte des Verlages. Im Interview-Bericht in von hundert #33, FREIHEIT SPEZIAL (S. 6–10) von September 2019 spricht Rike Felka über die Wirkung von Büchern, ihre Haltung als Verlegerin und die abenteuerlichen, freien, in jeder Hinsicht selbst gestalteten Anfänge des Verlages in den 1980er Jahren im West-Berliner Mauer-Kreuzberg.

Rike Felka stellt uns zwei Brinkmann + Bose Bücher vor. Als erstes Das Telefonbuch der amerikanischen Autorin Avital Ronell, genauer gesagt, den Buchrücken. Dieser sei „auch dann noch sichtbar, wenn das Buch im Regal verschwindet“ und zeige symbolisch Kabel, Sender, Empfänger, Übertragung, Telefontechnik – die Themen des Buches. Dreht man das Buch um 180 Grad, erkennt man auch gelbe Seiten. Für Nachgeborene: Die Gelben Seiten, das war ein großes, sehr dickes, auf dünnes Papier gedrucktes Buch, herausgegeben von der Deutschen Post, dann der Deutschen Telekom, parallel zum Telefonbuch. Die Gelben Seiten enthielten in kleiner Schrift spaltenweise die Telefonnummern und sonstigen Kontaktangaben sowie Werbeanzeigen von gewerblichen Anbietern (das Telefonbuch die privaten). Zurück zum Telefonbuch von Brinkmann + Bose. Zum Einsatz kamen hier die Schriften Univers Extended von Adrian Frutiger, Dynamo von K. Sommer und Minimum von Pierre di Sciullo. Die breitlaufende Univers auf den Innenseiten wirke „wie an einem Faden aufgezogen“, so Rike Felka, und lässt damit erneut eine Telefonschnur assoziieren. Fettdrucke und Einschübe von kontrastierenden Schriftarten zeigten Störungen, Wackelkontakte, ein weiterer Verweis auf den Konnex von Form und Inhalt; das Cover erinnere an Industriedesign. Das Vorsatzpapier thematisiert das Erdtelefon von Joseph Beuys, ein Kunstprojekt von 1967. Kein Wunder, dass Das Telefonbuch, von Rike Felka selbst „fulminant übersetzt“, wie es in einer Rezensionsnotiz heißt, in seinem Erscheinungsjahr 2001 zu einem der Schönsten Deutschen Bücher gekürt wurde. 

Als zweites Buch von Brinkmann + Bose sehen wir Dem Archiv verschrieben von Jacques Derrida. Wieder der Buchrücken: Die Trajan von Carol Twombly bildet darauf eine Säule, indem sie umlaufend in den Falz übergeht. Im Regal wird diese Säule wieder fragmentiert, da man nicht alles von und auf dem Titel sieht. Als weitere Schrift kommt bei diesem Werk, einer „Abhandlung des Archivbegriffs für die Handtasche“, die Antique Olive von Roger Excoffon zum Einsatz. Auf den Innenseiten stehen verschachtelte Insert-Kästchen symbolisch für ineinander verschachtelte Gedanken und ihre Ausführungen bzw. bieten dafür mehrere Textebenen. An dieser Stelle gibt es Rückfragen aus dem Publikum zu den Abläufen im Verlag: Wie die Kooperation zwischen Autor· und Gestalter·in funktioniere? Autor Derrida habe ausgesprochen positiv reagiert, berichtet Verlegerin Felka, sonst gab es in diesem Fall keine großen Abstimmungen. Positiv wurde auch befunden, dass die Titelseite nicht klassisch den Autor in den Vordergrund stellt, sondern die Elemente dort fast verschwindend klein seien, dafür die Konzentration auf den Buchrücken als Gestaltungsmittel. Eine sehr konzeptionelle, fast schon experimentelle Ausreizung der gestalterischen Mittel. Wir sind beeindruckt, auch von der stilistisch stimmigen, sorgfältigen Vortragsweise von Rike Felka. Ganz herzlichen Dank, liebe Rike!

Marion Wörle für die Reihe Rohstoff von MSB

Marion Wörle gestaltet für Matthes & Seitz Berlin deren Verlagsprojekt, so nennen sie die Reihe, RohstoffAußerdem macht Marion Musik – und hat Jetlag. Wir sind ihr sehr dankbar, dass sie trotz langem Transatlantikflug direkt bei uns gelandet ist! Man merkt es ihr übrigens im Vortrag nicht an. Hellwach präsentiert sie uns die „Rohstoffe“ und zeigt uns vier Bücher aus der Reihe.

Marion Wörles Arbeit bezieht sich auf die Gestaltung des Umschlages mit seinen vier Seiten, also U1 bis U4, vorne außen, vorne innen, hinten innen und hinten außen. „Es ist viel los“ dabei, sagt sie. Von der Produktion her soll es so günstig wie möglich sein, damit bei dieser preisgünstig gehaltenen Buchreihe keine Hemmschwelle für den Kauf besteht. Das bedeutet nicht, dass es gestalterisch anspruchslos oder ganz einfach und einheitlich ist. Den Buchrücken zieren Zitate nach Wahl der Autor·innen. Das Rohstoff-Logo in der rechten unteren Ecke wird immer dort, an gleicher Stelle eingesetzt, aber oft abgewandelt: als Binärcode (bei dem gezeigten Beispiel), in Durchsichtigkeit. Es entsteht etwas Scharfkantiges, eine optische „Scherbe“. So dass es „richtig wehtut, wenn man da reintritt“, sagt Marion. Auch die Manschette sitze immer an gleicher Stelle. Es gäbe aber kein Zentrum auf dem Titel wie bei klassischer Cover-Gestaltung, sondern umlaufende, abstrakte Bildwelten, die Marion für den jeweiligen Titel „komponiert“ – die Grafikerin und Musikerin ist seit über 20 Jahren in beiden Welten aktiv; das geht offenbar bestens zusammen.

Aus dem Publikum kommt eine zweifelnde Rückfrage zur separaten Gestaltung der Innenseiten und dem dadurch gegebenen Kontrast zur Gestaltung des Umschlags, zu dieser Unabhängigkeit der Gewerke. Marion Wörle bestätigt: Je größer der Verlag, desto größer die Arbeitsteilung; der Innenteil und wie er gesetzt wird sei hier bei der Reihe Rohstoff „Standard“. Es ergibt sich eine kleine Diskussion: Ist es schade, dass die Titelgestaltung im Innentitel nicht aufgegriffen wird, oder ergibt gerade diese Teilnormierung gestalterische Flexibilität?

Als zweites Buch zeigt Marion Wörle uns aus dem Dachverlag Matthes + Seitz Berlin Das Gefühl zu denken von Veronika Reichl, eine Neuerscheinung von diesem Jahr. Hier eine Rezension. Die Autorin thematisiert in ihren Erzählungen (basierend auf 50 Interviews) die Emotionen, die wir beim Lesen philosophischer Texte durchlaufen, und hat sich bereits in ihrer Promotion mit der visuellen Darstellbarkeit wissenschaftlicher Texte befasst. Hier spricht sie unter anderem von „Gedankenfalten“. Das wird typografisch mit zwei Schriften visualisiert, die sich ineinander falten und verschränken, erklärt uns Marion.

Wie ihre Zusammenarbeit mit MSB entstanden sei, fragt jemand aus dem Publikum. Dazu kam es über eine Autorin, die sich wünschte, dass Marion für sie das Buchcover gestalte. Es folgte die Gestaltung weiterer Umschläge, und erst dann fingen sie an, über Rohstoffe nachzudenken, so Marion. „Wir haben etwa ein Jahr lang Ideen gesammelt und überlegt, wie wir das Ganze umsetzen.“ Die Gestaltung der Reihe wirke aufgrund des klaren Rahmens vielleicht einfach und einheitlich, aber das täusche, sie gestalte zum Teil bis zu 40 Entwürfe pro Cover. Uff. Später sagt sie, der Austausch mit einer Community und noch dazu einer mal ganz anderen hier beim Typostammtisch habe ihr viel Spaß gemacht, denn beim Gestalten sei sie häufig ganz allein („nur mein Computer und ich“). Ansonsten gäbe es durchaus viel Teamwork im Verlag, aber als Freie habe sie daran ja keinen Anteil. Gern und vielen Dank auch an dich, liebe Marion!

Andrea Schmidt und Tillmann Severin: Verlagshaus Berlin

Andrea Schmidt (Gestalterin) und Tillmann Severin (Lektorat, Öffentlichkeitsarbeit, Übersetzung) stellen das Verlagshaus Berlin und sich selbst als zwei Drittel der Verlagsleitung vor; der dritte im Bunde ist Jo Frank. Moderatorin Sonja an dieser Stelle zum Publikum: „Ihr habt schon gemerkt, dass ich das Stichwort „Kult“ heute oft benutze. Das spare ich mir jetzt, aber …“ Das Verlagshaus Berlin agiert unter dem Motto „Poetisiert euch“ für Lyrik und Illustration – „keine Rangfolge, beides ist uns gleich wichtig“. Erst haben sie eine Zeitschrift für Lyrik gemacht, dann Bücher. Und ein sehr starkes Branding. Zusammen mit liebevoll moderierten Lesungen und weiteren Aktivitäten sorgen sie für große Nähe zwischen ihren Autor·innen, dem Lesepublikum – und sich selbst.

Andrea und Tillmann stellen uns drei Bücher vor, das heißt, mehrere, aber damit drei ihrer Reihen. Als erstes Livestream und Leichen aus ihrer Edition Belletristik: Gedichte von Martin Piekar und Illustrationen von Nina Kaun. Hier geht es direkt zum Buch, von dem sie sagen, dass darin drei Textebenen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) typografisch in verschiedenen Schriftarten bzw. Schriftgrößen dargestellt sind, und zwar in der Epika von Rostislav Vaněk, der Trans Sans von Matyáš Machat und in der Input Serif Condensed von David Jonathan Ross. Dann gab es da noch eine verschlungene Schrift mit vielen Alternates, die uns leider entglitten ist …

Aus ihrer Edition Zwanzig für neue Stimmen (Erstveröffentlichungen) in der Lyrik zeigen uns Andrea und Tillmann die Bände RE: RE: AW: LIEBE von Kevin Junk (erschienen 2022) und BARBARA von Barbara Juch (2023). Die farblich und typografisch klar und prägnant gestalteten Hefte haben einheitlich 48 Seiten („Beschränkung ist gut bei einer Gedichtauswahl“) und eine farblich passende Fadenheftung. Stichwort Fadenheftung: Die Fadenheftung sei ein „Flaschenhals in der Produktion“, kommt im Gespräch mit dem Publikum, aber vor allem den weiteren Verlagsmenschen heraus. Der Beruf des Fadenbinders sterbe aus, die Druckereien halten ihre Kontakte geheim. – Sehr schön diese Szene im gemeinsamen Vortrag: Tillmann Severin schwärmt seine Kollegin, Gestalterin Andrea Schmidt hemmungslos an und begeistert sich dafür, wie sie die Doppelpunkte im Titel von RE: … gekippt und mit einem i-Punkt zu den drei Punkten einer Ellipse zusammengefügt hat, dem Zeichen, das man sieht, wenn am anderen Ende der digitalen Flirt-Leitung jemand gerade schreibt … Yet again, Inhalt und Form. Typografische Form. Und Innenform. Auf dem Cover von BARBARA sehen wir die Schrift Zesta, gestaltet von Jéremie Hornus, Julie Soudannne und Alisa Nowak, deren herausgelöste Punzen innen als Gestaltungsmittel eingesetzt werden, „Ausdruck der Selbstfindung oder Selbstzersetzung: Was bleibt von mir übrig?“ Was hier zurückbleibt, ist der höchst positive Eindruck dieser schlichten, schönen Gedichtbände (zum sehr fairen Preis übrigens auch). 

Als dritte Reihe stellen Andrea Schmidt und Tillmann Severin ihre Edition Poeticon vor, eine Lieblingsreihe der Autorin dieser Zeilen. Die kleinen in Graupappe gehüllten Bändchen sind eine thematische Begriffssammlung zum Einstieg in oder zur Begleitung von Lyriklektüre – oder einfach so, zur Erbauung. Thematisiert werden Begriffe, die im zeitgenössischen gesellschaftlichen, gesellschaftspolitischen Diskurs, aber vor allem in der Poetologie mindestens der Autor·innen der jeweiligen Essays eine tragende Rolle spielen. Sie mögen den Zugang zu Lyrik erleichtern, aber auch dem eigenen Denken, Fühlen, kreativen Arbeiten neue Zugänge oder Anregungen geben: durch ihre Unmittelbarkeit, Nahbarkeit vor allem, Nachvollziehbarkeit. Manche der Bände klingen wie schrittweises, schriftliches Denken, wie laut gedacht, live. Im Fließtext sehen wir die Novel, in den Fußnoten Novel Sans Pro von Christoph Dunst, auf dem Cover die Versalien der wie in Stempeldruck fleckig wirkenden Vinyl von Brad Demarea. Das Papier ist von Fedrigoni. Gedruckt wird bei Gallery Print in Berlin. Wunderbare Arbeit, liebe Andrea, lieber Tillmann! Danke für die Einblicke.

Übrigens sind auch sie mit dem Verlagshaus Berlin mehrfach preisgekrönt, unter anderem mit dem Deutschen Verlagspreis 19, 20 und 22, und zu „100% INDEPENDENT“. 

So. Damit müsstet ihr reihenweise Anregungen für eure Lektüre, für besondere bibliophile Weihnachtsgeschenke, für neue typografische Wege und das Gestalten von Büchern bekommen haben.   

Vielen Dank unseren Vortragenden für alles, was ihr geteilt habt! Ihr habt uns einen wunderbaren Abend mit wertvollen Einblicken in eure Arbeit bereitet. Ihr habt für einen sehr schönen Büchertisch, Gesprächs- und Lesestoff gesorgt. Viel Liebe und viel Glück weiterhin für euren aufopfernden Einsatz für gute und besonders schöne Bücher.

Lieben Dank für die Vorgespräche auch an die Verlagsmenschen, die jetzt nicht dabei sein konnten. Auf ein nächstes Mal! 

Nachbericht 106. Typostammtisch: Schriftspaziergang & Biergarten

Die Vorhersagen waren sehr durchwachsen, doch pünktlich zum Start der Tour mit Fritz Grögel und Florian Hardwig kam die Sonne heraus. Bereits im U-Bahnhof gab es Informationen über die Entwicklung der Berliner U-Bahn, über die Teilung der Stadt und über den Unterschied von Typografie und Lettering.

U-Bahnhof Klosterstrasse
Florian erläutert die Entwicklung des Berliner U-Bahnnetzes

Wieder an der Oberfläche, bestaunten wir die fabelhafte Inschrift auf einer verspielten Jugendstil-Fassade. Sie gehört zum Geschäftshaus der Textilfabrikanten Berthold und Georg Tietz (entfernte Verwandte des Warenhausmagnaten Hermann Tietz) und bot Anlass, an ein dunkles Kapitel der Berliner Stadtgeschichte zu erinnern, als zur Zeit der NS-Diktatur jüdische Mitbürger·innen enteignet, verfolgt und ermordet wurden. 

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