Nachbericht 106. Typostammtisch: Schriftspaziergang & Biergarten

Die Vorhersagen waren sehr durchwachsen, doch pünktlich zum Start der Tour mit Fritz Grögel und Florian Hardwig kam die Sonne heraus. Bereits im U-Bahnhof gab es Informationen über die Entwicklung der Berliner U-Bahn, über die Teilung der Stadt und über den Unterschied von Typografie und Lettering.

U-Bahnhof Klosterstrasse
Florian erläutert die Entwicklung des Berliner U-Bahnnetzes

Wieder an der Oberfläche, bestaunten wir die fabelhafte Inschrift auf einer verspielten Jugendstil-Fassade. Sie gehört zum Geschäftshaus der Textilfabrikanten Berthold und Georg Tietz (entfernte Verwandte des Warenhausmagnaten Hermann Tietz) und bot Anlass, an ein dunkles Kapitel der Berliner Stadtgeschichte zu erinnern, als zur Zeit der NS-Diktatur jüdische Mitbürger·innen enteignet, verfolgt und ermordet wurden. 

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Nachbericht 105. Typostammtisch: Hendrik Weber & Aljoscha Höhborn

Vorbei an neonroten Tape-Wegweisern durch die Hinterhöfe, die Treppen vierer Stockwerke hinauf, durch den dunklen Schallschutzverkleidungstunnel und hinein in den Urlaub – so zumindest fühlte sich der Abend für uns als Typostammtisch-Team an. Denn die gastgebende Agentur (auch ein Team, KMS TEAM nämlich) hat sich mächtig ins Zeug gelegt, um den ca. 80 Anwesenden trotz angesagtem Gewitter einen tollen Abend zu bereiten. Danke den beiden Sprechern, sowie Wolfram, Anna, Annette, Patrick und allen Beteiligten!

Viel Engagement für einen tollen Abend: Danke, KMS TEAM!

Nach einigen Soundproblemchen (wär ja auch sonst langweilig) erzählt uns Hendrik Weber, Type Director bei KMS TEAM, von Minimalismus in der Corporate Typografie. Hendrik erläutert die Konventionen, die Schrift ausmachen und von anderen Design-Disziplinen unterscheiden. Semantik also: Ein a sei schließlich kein Schuh und keine Karotte. Seine These: Je komplexer die Marke, desto einfacher muss die Corporate-Schrift sein. Bei Schrift im Markenkontext gehe es darum, Raum zu schaffen, sodass andere Disziplinen zur Geltung kommen können. 

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Nachbericht 103. Typostammtisch: Ulrike Rausch & Lea Giesecke

Ein Abend, zwei Masterarbeiten, so verschieden und doch dicht verflochten. 

Die beiden Absolventinnen Ulrike Rausch und Lea Giesecke sind angespornt von Neugier, Entdeckerinnengeist, vom Drang haptisch gestaltend etwas zu erhalten und es gleichzeitig zu hinterfragen, es zukunftsfähig zu machen. Die Themen ihrer Masterarbeiten lauten Maschinen schreiben (Ulrike) und BuchBauKasten (Lea). In Ulrikes Vortrag geht es um teilweise selbstgebaute Maschinen, die Handschriften reproduzieren; um Gamification und die Frage, was eigentlich authentisch ist. Lea lässt uns eintauchen in die Welt der Buchbinderei. Wir erfahren vom aussterbenden Handwerk und neuen Ansätzen, Wissen an kommende Gestalterinnengenerationen weiterzugeben.

Dieser Artikel ist, ebenso wie Ulrikes Masterarbeit und Vortrag, im generischen Femininum verfasst. Jawohl!

Speakerinnenimbiss diesmal: Sushi
„Was die Handschrift verrät“ – Ja, was denn eigentlich?
Das Publikum nimmt Platz.
Los geht’s! TStT-Moderator Lukas Horn begrüßt alle und gibt weiter an …
… Ulrike Rausch. Sie zeigt uns wie „Maschinen schreiben“.

Der Blick zurück

Ulrikes erste Reaktion, als Udk-Professor David Skopec ihr einen Masterabschluss anriet, um selbst Masterstudentinnen unterrichten zu können: „Bestimmt nicht“. Selbstredend, ein Masterstudium bedeutet viel Arbeit, und wer wie Ulrike jahrelang mit Schriftgestaltung Brötchen verdient, auf internationalen Bühnen gestanden und auch bereits publiziert hat, schreckt sicherlich erst einmal zurück vor der Umstellung, die erneutes Studieren bedeutet. Andererseits: Warum eigentlich nicht? Und schon toll, so „Bildung for free als erwachsener Mensch“, wie Ulrike es formuliert. Nun steht sie also als Master of Arts vor uns.

Lea Giesecke stellt ihren BuchBauKasten vor.

Lea, ebenfalls seit letztem Jahr Master of Arts, absolvierte ihr Masterstudium direkt im Anschluss an den Bachelorabschluss an der FH Potsdam. Während ihres Studiums arbeitete sie in der Buchbindewerkstatt der Hochschule, wo sie mit Fragen zu den schier endlosen Möglichkeiten von Faltungen, Bindungen und Produktion konsultiert wurde. Oft kamen Studentinnen am Ende des Semesters allerdings mit fertig gestalteten Projekten, bei denen die Buchbindetechnik nicht mitgedacht wurde und wenig nachträgliche Änderungen möglich waren. Lea beobachtete also die Tendenz, Inhalt und Form nicht bis zur Produktion zu konzipieren. Um das zu ändern, wollte sie Studentinnen ein simples und doch ungemein tiefgreifendes Werk an die Hand geben. Einen dicken Wälzer womöglich? Nein, ein Plakat mit dazugehörigen Legekarten.

Leas Idee entwickelte sich in der Buchbindewerkstatt der FH Potsdam.

Theorie

In ihrem theoretischen Teil zeigt Ulrike anhand von ausgewählten schreibenden Maschinen (Telautograph, Longpen, Autopen), wie sich die Sicht auf Handschrift in der Geschichte verändert hat. So wurde der Telautograph bei seiner Vorstellung 1893 verblüfft bis skeptisch aufgenommen: Wie konnte es sein, dass eine nahezu originalgetreue Abschrift eines handgeschriebenen Textes in kilometerweiter Entfernung von einer Maschine reproduziert wird? Auch der Longpen, ein digitaler Unterschriftenautomat, erfunden 2004 von der Autorin Margaret Atwood, wirft Fragen zur Nähe zwischen Fan und Autorin bei einer Remote-Signierstunde auf (… und das vor Corona!). Oder der Autopen, jener Unterschriftenautomat, der seit 1937 zum Tagesgeschäft beispielweise der US-amerikanischen Politik gehört und nach wie vor für Signaturen von höchster Stelle genutzt wird. Gebt mal „Patriot Act“ in der Suchmaschine eurer Wahl ein: Dieses Gesetz wurde via Autopen unterschrieben, in Auftrag gegeben von Barack Obama. Ist solch eine Praxis eigentlich rechtssicher? 

1893 entstand diese verblüffend ähnliche Abschrift (rechte Seite) durch den Telautograph.
Über das Authetizitätsversprechen von Autogrammen
Künstliche Intelligenzen leiten aus wenigen vorhanden Buchstaben (linke Spalte) neue Buchstaben ab. Da kann man nur sagen: Oha.

Bis hierhin haben wir schon viel über Authentizität gelernt. Im Weiteren geht es auch um täuschend echte Handschrift-Fonts, Anbieterinnen von pseudo-authentischen Massen-Mailings und um künstliche Intelligenz, die anhand von einzelnen Worten ganze Handschriften ableitet. Und da sind wir noch nicht beim praktischen Teil!

Zunächst nämlich Leas theoretischer Teil. Dieser beschäftigt sich mit der haptischen Erfahrbarkeit von Büchern. Lea ist interessiert an allem, was das Medium Buch auf dieser Ebene ausreizt: Format, Bindung, Material, Details, Veredelungen, Faltungen. In diesem kreativ-handwerklichen Umfeld entwickelt sich total folgerichtig ihr BuchBauKasten (BBK), auf dessen Umsetzung sie den Fokus ihres Vortrags legt.

Geformt durch Neugier, Erklärungsbedarf und Interesse am besonderen Buch.

Praxis

Entstanden ist ein umfangreiches und intelligent gefaltetes Plakat, das anhand von neutralen Illustrationen verschiedene Möglichkeiten von Bindung, Einband, Falzung und Ausstattung aufzeigt. Sie hätte es nie verstanden, dass die inititale Unterscheidung Broschur/Hardcover bereits zu solch großen Einschränkungen in der Auswahl der Bindung führen soll, sagt Lea. Schließlich seien auch andere Kombinationen vorstellbar als Broschur mit Klebebindung und Hardcover mit Fadenheftung. Ziel war es also, kein vorgefertigtes Bild zu zeichnen, sondern qua Gestaltung des Plakates schon möglichst viele Kombinationen offen zu halten und zum Ausprobieren anzuregen.

Überhaupt, ausprobieren: Auch die Betreuerinnen der Masterarbeit seien skeptisch gewesen, ob dieser unkonventionelle Ansatz funktioniert. Kurzerhand leitete Lea also selbst eine Projektwoche an der FH Potsdam, in der Studentinnen alle möglichen per Zufall ausgelosten Kombinationen der vier Kategorien in Buchprojekte übersetzten. Und siehe da: Die meisten Konstellationen waren umsetzbar, wenn man Spielraum zur Interpretation der Techniken lässt, und die Erwartungen wurden mit außergewöhnlichen Ergebnissen übertroffen. 

Prima Publikation. Prima gefaltet. Das Plakat gibt’s auf Deutsch und Englisch, gefaltet und gerollt. Das dazugehörige Set der Legekarten ist in Arbeit und soll eine freiere Herangehensweise ans Büchermachen unterstützen.
Lukas Horn unterstützt beim Vorstellen des Plakats.

Leas Projekt betont den spielerischen Umgang mit Produktion. Es ist offen für eure Projekte. Es möchte gefüllt werden, schon zu Beginn des Denkprozesses zurate gezogen und zum Leben erweckt werden. Die perspektivischen Illustrationen, die nur das für die jeweilige Rubrik Wesentliche zeigen, und die insgesamt sehr zurückgenommene, schwarz-weiße Gestaltung sprechen für sich. Begleitend zum Projekt gibt es eine Webseite (buchbaukasten.club).

Bis sie einen angemessenen Illustrationsstil herausgearbeitet habe, der im Detail unterscheidbar aber im Allgemeinen neutral genug sei, habe es eine ganze Weile gedauert, so Lea.

Ulrikes praktischer Teil könnte auch einem Grundstudium Elektrotechnik entspringen: Sie knippert Kontakte, vertüdelt Kabel, schraubt und lötet. Kein Servomotor und kein DVD-Laufwerk ist vor ihr sicher – bis die kleinen Racker das schreiben, was Ulrike will. Oder bis zumindest die Grenze des Machbaren erreicht ist. Eine Frage aus dem Publikum, ob ihre selbstgebauten Schreibroboter Namen hätten, verneint Ulrike. Die Vermutung ist allerdings sehr verständlich: frau tendiert dazu, diese Maschinen zu vermenschlichen. Sie wachsen ans Herz, schreiben sie doch menschliche Worte mit so abstrus-niedlichen Geräuschen. Bei so viel philophischer Metaebene (von Menschen gebaute schreibende Maschinen schreiben wie schreibende Menschen, die das Geschriebene digitalisieren um dann mit Maschinen zu schreiben wie …) hört es sich doch leichter dem Roboter beim Quietschen zu. HA HA HA, Nö Nö Nö.

Ein Roboterarm ohne Name schreibt „HAHAHA“ auf eine Rolle …
… und ein anderes Maschinchen „Nö Nö Nö“ auf Post-its.
Von Servomotoren, DVD-Laufwerken und vielen, vielen Kabeln.
Das Auto als Stift; Gamification I
und rückwärts digitalisiert; Gamification II.

Es gäbe noch so viel nachzuerzählen. Aber ihr sollt ja auch Lust haben, nochmal an anderer Stelle von den beiden Ladies und ihren Projekten zu hören. Wie also geht’s weiter mit den Abschlussarbeiten?

Der Blick nach vorn

Nachdem der BuchBaukasten Anfang des Jahres beim kleinen Stuttgarter Verlag Prima Publikationen veröffentlicht wurde, ist Lea in diesem Jahr bei vielen Gelegenheiten anzutreffen: Auf diversen Messen, bei Workshops im EinBuch.haus in Berlin und auch ab und zu auf dem Buchbindestammtisch. Unser Herz hüpft. Ja, Buchbindestammtisch! Lea erzählt davon, wie dieses Handwerk zunehmend ausstirbt und wie offen sie mit ihren frischen Ideen beim Stammtisch empfangen wurde. Aus dem Publikum gibt es noch Anregungen zu einem interaktiven Herstellerinnenverzeichnis, das Werkstätten und Betriebe gegliedert nach Umsetzungsmöglichkeiten aufzeigt. Denn, auch das sei nicht immer einfach, bestätigt Lea: Leute zu finden, die die Ideen am Ende umsetzen. 

Crowdfunding: check. Verlag: check. What’s next?
Unter anderem auf diesen Messen ist Lea dieses Jahr anzutreffen.
Oder man besucht einen ihrer Workshops, z.B. im EinBuch.haus.

Letzte Publikumsfrage, diesmal an Ulrike: Erwartet uns im Hause LiebeFonts ein neues Label mit maschinengeschriebenen Handschriftenfonts? Nee, entgegenet Ulrike. Lieber in die Schublade damit und dort wertvoll werden lassen. The present is already past.

Wir meinen: Zumindest den Vortrag sollten unbedingt mehr Menschen hören dürfen.

Danke euch beiden!

Nachbericht 102. Typostammtisch: Type Crit III

Type Crit, die Dritte! An diesem Frühlingsabend sind wir in der p98a zu Gast, der Druckwerkstatt von Erik Spiekermann und Team. Eine tolle Umgebung für Werkstattgespräche über Schrift!

Sechs Schriftgestalter·innen mit ganz unterschiedlichen Perspektiven haben wir an diesem Abend eingeladen: Da wäre René Bieder, der knapp vor Beginn direkt vom Arbeitsplatz im Obergeschoss die Wendeltreppe hinuntergerauscht kommt – es gibt schließlich immer etwas fertig zu machen! Wir begrüßen Daria Cohen, nach Stationen bei LucasFonts und Swiss Typefaces nun selbstständige Schriftgestalterin. Man darf gespannt sein! Typostammtisch-Logistikminister und erfahrener Schriftkritiker Luc(as) de Groot sitzt ebenfalls bis spät in den Abend Rede und Antwort (siehe Fotos). Wir begrüßen unseren langjährigen Stammgast Christoph Koeberlin: Designer, Font-Engineer und Sportschriftspezialist. Ebenfalls als Kritikerin dabei: Inga Plönnigs, deren Schriften u.a. bei FutureFonts und Frère-Jones im Programm sind. Zuletzt kooperierte sie im Rahmen des tollen Projekts „Women in Type“ mit Flavia Zimbardi. Gastgeber Erik Spiekermann lässt gleich seinen Druckerkittel an und vertieft sich tatkräftig in Gespräche über Entwürfe und Projekte. Die Crits finden zwischen Letterpress-Maschinen, vollen Bücherregalen, ausgestellten Blei-Lettern und Plakaten ihre Arbeitsplätze. Fotos folgen – aber vorher müssen wir noch etwas loswerden:

Lieber Erik, liebe Lilith, liebe Helene. Vielen Dank an euch und das gesamte Team für die tolle Location und eure Unterstützung! Die p98a ist immer einen Besuch wert (und hat übrigens auch einen Newsletter, über den man auf dem Laufenden bleiben kann. Oder man wird gleich Freund·in).

Ganz herzlichen Dank an unsere Expert·innen, die geduldig und kompetent den gesamten Abend ansprechbar waren. Danke an alle, die die Gelegenheit genutzt und Entwürfe mitgebracht haben – auch wenn es (so euer Feedback) mitunter etwas Überwindung erfordert, ist Live-Austausch immer wertvoll! Danke auch an alle spontanen Schriftbesprecherinnen, Schultergucker und an diejenigen, die einfach so auf ein Bier vorbei geschaut haben. Es war uns wieder einmal ein Fest!

Begrüßung I
Begrüßung II
Doppelcrit: Luc(as) de Groot und Erik Spiekermann im Gespräch
René Bieder (li.) im Gespräch
Schultergucker I
Schultergucker II
Ein Tisch, zwei Arbeitsplätze, vier Menschen: Daria Cohen und Inga Plönnigs in Gesprächen
Christoph Koeberlin (re.) im Gespräch
Inga Plönnigs (re.) im Gespräch
Spontancrit I
Spontancrit II
Daria Cohen bei der Arbeit
Auch ohne Entwurfsgespräche eine tolle Gelegenheit, Alt- und Neubekannte zu treffen.
… Und das alles in dieser tollen Umgebung!
Besprechungen allerorten, bis in den späten Abend.
Der Platz gegenüber von Luc(as) de Groot ist fast durchgehend besetzt.

Alle Fotos von Thomas Maier.

Nachbericht 101. Typostammtisch: Studio Pandan

Wir freuen uns, Pia Christmann und Ann Richter sind bei uns! Dieses Mal wurde als Speakers Imbiss (neue Rubrik) selbst gebackenes Brot, gesundes Grün-Rot, frische Butter und Käse gereicht. Kam an. Pandan. Was für ein guter Klang, schon im Namen. Mehr dazu später.

Studio Pandan, gegründet 2015, haben enorme Strahlkraft insbesondere für jüngere und noch studierende Kolleg·innen. Alle anderen sind ebenso be- bis leicht entgeistert. Warum, das entfaltet sich unmittelbar durch ihre Präsenz und Projekte. Die ruhige, sorgfältige Art ihrer Arbeitsweise kommt schon im gemeinsamen Vortrag raus, das sensationell Neue, Frische ihrer Gestaltungsideen wirft uns umso mehr um und verblüfft quasi stufenweise, je genauer man hinschaut.

Den Namen erklären wir später noch …

Entspannt und konzentriert folgen wir dem Duo in ihrer Präsentation. Die beiden kennen sich seit ihrem Studium in Leipzig (HGB Hochschule für für Grafik und Buchkunst) und sind gut eingespielt. In ihren Projekten ist zu sehen, und Lukas Horn stellt es durch seine Beobachtung am Schluss heraus, dass bei jedem Projekt die Typografie ganz am Anfang kommt.

… und dieses Projekt weiter unten.

Wie arbeiten sie? Sie suchen und sammeln Schriften in einer Art Mood Board, die in Frage kommen könnten für das jeweilige Projekt. Sie tüfteln und bearbeiten diese Schriften, schreiben selber Skripte (in InDesign), um sie nicht für das jeweilige Projektkonzept irgendwie passend zu machen, sondern mit den Inhalten, ja, zum Teil zu verschmelzen.

Ein Beispiel dafür ist ganz offenkundig „das Wasserfall-Projekt“, das anders heißt, aber so in Erinnerung bleibt. Weil die Schrift wasserfallartig von oben nach unten herunterfällt, kleiner wird auf den Buchseiten: innerhalb der Überschriften und Fließtexte (sic!). Es handelt sich um den Ausstellungskatalog zu Dem Wasser folgen, Kunsthalle Bielefeld. In Assoziationen und Reflexionen berührt die Schau ökologische bis philosophische Aspekte rund um das große Thema Wasser. Nach dem Motto Thinking about water is thinking about the future der Künstlerin Roni Horn nutzen Studio Pandan für die Kataloggestaltung umweltfreundliche Papiere und Blautöne als Schrift- und Hintergrundfarbe für die abgebildeten Kunstwerke. Blaues Affichenpapier wird zum durchgehenden Materialmotiv. Stichwort Schrift: Es handelt sich um die (hier vorab veröffentlichte) New Edge von Charlotte Rohde, die mit ihren „teils fluiden Formen und wie mit Farbe gefüllten Ink-Traps“ perfekt zum Thema passe. Spannend die Struktur des Buches und wie diese den Lesefluss (!) beeinflusst (!): Der Haupttext mäandert durch das Buch, immer mal wieder auf und abtauchend.

Schriften, die ins All ausmorphen

Als weiteres Beispiel sei die futuristisch ins All hinausmorphende Kursive im Künstlerbuch für Zach Blas genannt. Oft bindet er Künstliche Intelligenz methodisch in seinen Arbeitsprozess ein. Konsequent haben Studio Pandan in Bezug auf die Typografie auch mit Technologie und Automatisierung gearbeitet, genauer gesagt (auf Rückfrage von Verena Gerlach) mit InDesign-Skripten, beispielhaft hier bei diesem Projekt so: InDesign-Skript —> zufälliges Mischen von zwei verschiedenen Schnitten der LL Unica 77 —> „Glitch-Ästhetik, wie sie auch in Blas’ Arbeiten auftaucht“, so Ann und Pia.

Der Künstler und Autor Zach Blas befasst sich mit Technik, Queerness und politischen Themen.
In Zach Blas’ Welt gibt es ein alternatives „Contra-Internet” und KI-generierte Weissagungen einer Zukunft, in der Eidechsen und Elfen angesiedelt sind.
Methode: InDesign-Skript —> zufälliges Mischen von zwei Schnitten der LL Unica 77 …
—> „Glitch-Ästhetik, wie sie auch in Blas’ Arbeiten auftaucht“ (Projektfotos: Studio Pandan)
Schriften, die ins All ausmorphen (Foto: Studio Pandan)

Studio Pandan nutzen Silber, Neongrün und Neonpink als Sonderfarben zusätzlich zur CMYK-Skala, um die beeindruckenden Farben seiner Installationen ins Buch zu übersetzen. „Für den Part, wo Elfen sprechen, haben wir der Schrift einen Glow verliehen und mit Silber auf die Bilder gedruckt“ (dies bezieht sich auf besagte Kursive, wo sie nicht mit der Schriftschnittmischung arbeiten). Herausgegeben und beauftragt wurde das Buch durch das Edith-Russ-Haus für Medienkunst (Verlag Sternberg Press, Produktion print professionals und DZA Druckerei zu Altenburg).

Von der Straße …
… ins Museum.

Pandemiefreundliche Puzzle-Edition

Bei den freien Projekten, mit denen Pia Christmann und Ann Richter sich beschäftigen, geht es um gesellschaftskritische Themen wie Feminismus und Design. Ihr „Pandemieprojekt“ war More Women Solo Art Shows. Zur Demo am 8. März 2020 zum Internationaler Frauentag hatte Stefan Marx in einer markanten weißen Versalschrift Plakate mit Parolen gestaltet, die auf vielen Fotos zu sehen waren und für hohe Aufmerksamkeit und Wiedererkennung sorgten. Angeregt davon, entwickelten Studio Pandan eine Puzzle-Edition, und konnten das Museum Villa Stuck von der Idee überzeugen, das Puzzle herauszugeben und damit in Serie zu gehen.

Hochschulfreundliche Kooperationen und verpixelte Handtücher

In einem Plakat-Workshop an der Muthesius Kunsthochschule Kiel regten Ann und Pia Studierende dazu an, mit den verschiedenen typografischen Genderformen visuell zu experimentieren. Zur Unterstützung des Crowdfundings von Hannah Wittes Buch Typohacks gestalteten sie das Plakat Un_Writing Gender, auf dem sie die traditionellen, binären weiblich-männlich-Zeichen zerhäckseln. Der Titel bzw. Slogan ist eine Referenz zum Konzept Un_doing Gender (Hirschauer, Butler); als Schrift verwenden sie die Apparat von Lisa Drechsel.

Am Überbrücken von zu engen Wertesystemen ist Studio Pandan auch in einem größeren Kontext gelegen. Für das Kunstfestival Balade Berlin im Stadtteil Charlottenburg gestalteten sie die Visuelle Identität – und installierten vor dem sehr feinen Hotel Savoy drei Flaggen mit der Aufschrift UN_DOING CLASS. Den Claim setzten sie in der Flemish Script, einer klassizistischen, monumentalen Antiqua, auch in Anlehnung an Marcel Broodthaers und wegen des exquisiten Flairs, das diesen Schrifttypen anhaftet. Allerdings sparten sie nicht an Effekten. „Denn uns geht es natürlich um den Bruch und die Infragestellung von Klassen und Schubladen – nicht nur in Stilen“, erläutern sie. „Das wird spätestens auf der Bildebene klar, auf der wir mit ,Poor Images‘ gearbeitet haben, verpixelten Abbildungen von Strandtüchern. Die „Kitschmotive aus dem Internet“ kamen, handtuchgroß aufgeblasen, nicht nur in Charlottenburg gut an.

Im Nachhinein stellen wir gemeinsam fest: Die pandemiebeeinflusste Aufteilung von Studio Pandan und Eps51 (siehe Nachbericht), die in einem Haus sitzen und die wir ursprünglich zusammen einladen wollten, war viel besser! Jede hatte viel, viel Raum und die Zusammenbringung von Schriftanwender·innen mit Schriftgestalter·innen ist richtig produktiv. Zumal, wenn der Umgang mit Schrift und den Mitteln der Typografie so außergewöhnlich und fundiert geschieht.

Eine spannende Frage aus dem Publikum war, wie Pandan ihre Auftraggeber·innen von ihren Gestaltungen überzeugen. Es werde immer weniger nötig, sagt Pia, und Ann ergänzt „wir haben dafür keine spezielle Strategie ausgeheckt“. Aber: Sie würden ihre Ideen erklären, die konzeptionellen Gedanken auch hinter Details. Dazu passte der visuell-verbale Abschluss der Präsentation, bei dem Pia diverse Textauszüge und Zitate aus einiger ihrer Projekte zeigt. Jedes davon könne als Motto für sie als Kreative verstanden werden.

Vielen Dank, dass ihr da wart, liebe Ann, liebe Pia!

Oder umgekehrt: Pia, Ann. Pandan. Ihr Name, auch dieses Geheimnis wurde auf eine Publikumsfrage hin gelüftet (die mich als Texterin besonders freute), lässt ihre Vornamen anklingen. Pandan habe (a) einen sehr schönen Klang und erinnere an Pan Am, so Pia; Pandan ist eine südostasiatische Pflanze und damit ein persönlicher Bezugspunkt für Ann – es gibt sie auch als sehr leckere Eissorte, empfiehlt im Publikum Verena Gerlach, die Autorin denkt an dieser Stelle: das neue Waldmeister! Muss ich probieren. Zudem ist Pandan (c) knallgrün, also Logofarbe fürs Studio und ein Statement: für mehr Farbe in der visuellen Gesaltung. Die Menschen mögen Farbe, ziehen die beiden noch als Fazit aus ihrer Arbeit. In diesem Sinne: Pandan!

Der Abend klingt noch lang und mit fröhlichen, angeregten Gesprächen aus. Ich erinnere mich an Christoph Koeberlin (Sportfonts), wie er unsere Vortragenden beruhigt: Schrift-Nerds seien „gar nicht so schlimm“ und kritisch als Publikum (damit, ob und wie alle Schriften genannt werden). Ich erinnere mich an das Hamster-Gespräch mit Typostammtisch-Gründer Ivo Gabrowitsch (Fontwerk) über Schriftnamensfindungsprozesse, die meist keine seien, sondern ihm entspringen (oder wie Hamster von den Gestalter·innen kämen). Ich erinnere mich an viele neue Gesichter beim Typostammtisch und viel freudige Begeisterung über die schöne Location – Riesendank an Luc(as)/LucasFonts)! Ich denke an meine Kollegin Gosia Warrink von der UdK (Universität der Künste) Berlin, mit Katja Koeberlin als Design-Studio Amberpress, und an unsere Studierenden und wie alle aufeinander zugingen. Ich erinnere mich an meine Aufregung, danke Lukas für die Co-Moderation (!!!) und wie ungewohnt und schön doch wieder solche Zusammenkünfte sind …

Was wir euch außerdem noch sagen wollten …

Mit diesem Typostammtisch haben wir einen neuen Alterspannweitenrekord aufgestellt! Trommelwirbel, Tusch: von 14 Jahren (LucasFonts-Schülerpraktikantin Neike) bis 85 Jahre (Klaus Rähm). Auf die nächsten 100 Jahre Typostammtische, die mit der Ausgabe 101 sehr schön begonnen haben. Nicht vergessen: Newsletter = Einladung zu 102 ff.

Lukas Horn und Sonja Knecht, Team Typostammtisch mit Pia Christmann und Ann Richter, Studio Pandan
Ann Richter & Pia Christmann glücklich und erschöpft nach ihre tollen Präsentation – vielen Dank nochmals euch beiden! War super.

(Fotos: Sonja Knecht, Lucas de Groot und Dr. Thomas Maier / Typostammtisch Berlin)

Nachbericht 100. Typostammtisch: #100 Quiz

Wisst ihr noch? In der Kindheit war es immer ein großes Diskussionsthema, ob es nun von Vor- oder Nachteil sei, an bzw. um Weihnachten Geburtstag zu haben. Wir wollen die Frage nicht strapazieren, nur so viel: Für den Typostammtisch ist es kein Problem – im Gegenteil. An diesem besonderen Abend kommt eine Menge zusammen: die weihnachtlich geschmückte Kirche und die Erinnerung an Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben; das traditionell im Dezember abgehaltene und in den letzten Jahren pausierte Quiz – und das 100-jährige Jubiläum … äh, die 100. Ausgabe des Typostammtischs (est. 2006).

Stefan Pabst und Sol Matas beim Aufbau

In der als Veranstaltungsort genutzten Zwinglikirche in Friedrichshain steht bereits ein opulenter Weihnachtsbaum, als Sol Matas zum Aufbau mit drei Luftballons in Form einer Eins und zwei Nullen ankommt. In dieser Kombination verkaufen das Ballonvertriebsmenschen sicherlich auch nicht jeden Tag. Die Vorbereitungen laufen: Kirchenbänke an den Rand tragen, Bestuhlung und Tische aufbauen, die Leinwand platzieren, die vorab gesendeten Geschenke protokollieren und auf dem Gabentisch arrangieren – da kommen auch schon erste Menschen mit weiteren Geschenken an. Herzlichen Dank dafür, eine detaillierte Auflistung findet ihr unten. Der Glühwein dampft (Dank an Bartender Stefan und den Kulturraum Zwinglikirche e.V.) und lädt ein, im beheizten Seitenschiff kurz die Hande aufzuwärmen.

Aber wir merken schon: Die Anwesenden sind vor allem heiß aufs Quizzen.

Wir beschränken also unsere Jubiläumsansprache auf kurze Danksagungen an verdiente Typostammtischteammitglieder (Ivo Gabrowitsch, Florian Hardwig, Benedikt Bramböck, Verena Gerlach, Olli Meier, Fritz Grögel, Sebastian Carewe, sowie das aktuelle Team), ein „Hallo“ an Stammgäste und neue Gesichter. Schön, dass ihr mit uns feiert!

Handtaschen, Hühnereier und hundertste Geburtstage

Dann geht’s endlich los: Quizmaster Stefan Pabst verkündet die Fragen, die er gemeinsam mit Jürgen Huber und Sebastian Carewe ausgetüftelt hat (die drei waren anno 2019 im 2. Gewinnerteam). Die ersten zehn Fragen sind für Schriftspezis durchaus kniffelig, da sie den typografischen Kontext sehr weit fassen. Bittersüßen Zwischenapplaus gibt’s zum Beispiel für die Aufgabe, die Logos bekannter Luxusmarken nach der Reihenfolge von Geschäften auf dem Ku’damm zu ordnen. Als dann eine weitere „Handtaschenfrage“ (O-Ton aus dem Publikum) kommt, sind die ersten schon angesäuert. Flexibel bleiben, Leute! 🙂 In dieser ersten Phase des Quizzes mäandern wir gemächlich, unser Allgemeinwissen vergrößernd, zwischen Emoticons, Länderflaggen und Codes auf Hühnereiern.

Frage #13 dreht sich dann um Adobe Illustrator und maximale Punktgrößen – durchaus also ein Typothema im engeren Sinne. „Endlich!“ schallt es da vom im Verlauf des Quizzes lautesten Tisch (wie sich letztlich herausstellt: der Gewinnergruppentisch). Dann aber: „Ach nee, weiß ich doch nicht.“ Nun ja. Weiter geht’s mit zerschnipselten Berliner Logos (modulor, Friedrichstadtpalast, TU, BZ, …) und Personenraten anhand von Lebensdaten (Gutenberg, Frutiger und G. Zapf – diese drei Punkte räumen fast alle Gruppen ab). Es folgen die Zuordnung von Farben zu RGB-Werten („Cmyk wär’ ja leicht“, gibt das Publikum zu), Fragen zu Instagram und Netflix und schließlich das beliebte Punzenraten. „Jetzt sind sie in ihrem Element“, flüstert da der Quizmaster zufrieden. Wer den tgm-Newsletter erhält und liest, kann schließlich auch die Frage beantworten, wer an diesem 15. Dezember 100 Jahre alt geworden wäre. „Auf Kurt!“, skandieren einige mit klirrenden Glühweintassen.

Finale, Tradition und Zukunft

Nach der Auswertung der 29 Fragen steht das Team mit der höchsten Punktzahl fest. Es besteht aus Andreas Frohloff, Anton Koovit, Gunnar Bittersmann, Roman Wilhelm und Stanisłav (Nachname gesucht!). Um den Finaleinzug schätzen Benedikt Bramböck und Yaron Zimmermann aus zwei punktgleichen Teams um die Wette: „Wie viele Follower hat Dinamo auf Instagram?“ Benedikt ist nah dran und sitzt folglich neben Roman im Finale. 

Das Raten von europäischen Nummernschildern mit geschwärztem Länderkürzel geht punktlos vorüber. Is’ aber auch schwierig …! Das 1:0 macht Roman beim Teilen einer Strecke im Goldenen Schnitt durch Befestigen eines Klebezettels auf der Leinwand. Es folgen die Fragenblöcke „Die Schriften welcher Foundry bilden diese Worte?“ bzw. „Welcher Schriftname verbirgt sich hinter diesen Anagrammen?“ (zum Nachraten: Riesen UV, Antenne GbR, Arno Magd). Das Schwierigkeitslevel der Fragen und der Modus des abwechselnden Ratens ohne Abstauber verhindern allerdings weitere Finalpunkte, sodass Roman Wilhelm am Ende mit 1:0 als Gewinner feststeht. Andreas Frohloff schreibt den Gewinnernamen traditionsgemäß auf den Wanderpokal, der nun für ein Jahr bei Roman in der UdK Berlin beherbergt ist.

Gewinner mit Luftballons, im Hintergrund Wahnsinnskulisse des Seitenschiffs, im Vordergrund: Spendendose und Glühwein.

Es werde Licht – Andreas beim Beschriften des Pokals mit Beleuchtern

Der Ergebnis

Nach einer großen Unsicherheit, wer die Fragen nach dem letzten Quiz 2019 und der Corona-Lücke auszutüfteln hat, schaffen wir fürs nächste Jahr gleich Tatsachen mit vielen Zeugen: Die Gewinnergruppe (namentlich genannt sieht oben), beehrt uns 2023 mit ihrer Interpretation des Formats. Wir sind gespannt!

Punktsammler 2022 und Fragenausdenker 2023

Not, Laib und Seele

Angefroren verabschieden sich viele Gäste recht bald. Um 22 Uhr ist Abbau angesagt, denn nach dem Typostammtisch ist vor der Nachtruhe: Die Zwinglikirche dient dieser Tage als Notunterkunft für wohnungslose Menschen, nachdem die eigentliche Notunterkunft abgebrannt ist. Da helfen wir gern beim Bettenaufbau. Schon nachmittags, vor dem Typostammtisch, war die Kirche eine Anlaufstelle für Bedürftige. Hier fand die Essensausgabe der Berliner Tafel, Laib und Seele, statt. Während des Quizzes geht eine Spendendose herum, die 235€ einbringt. Mit diesem Erlös hat Laib und Seele kleine Päckchen mit Schokolade und anderen weihnachtlichen Kleinigkeiten gefüllt und verteilt. Vielen Dank an euch alle! Ihr habt geholfen, vielen Menschen eine kleine Freude zu ermöglichen.

A propos Dank und Freude: 

Bei wem ihr euch mit Blick auf euren Gewinn bedanken dürft, könnt ihr hier nachlesen.

Alexander Roth: Poster (AG57)
Andreas Frohloff:
 Pokalbeschriftung, Buch: „Made with FontFont“, Buch „Fontbook“ 
Benedikt Bramböck: Buch „Evolution“, Buch “Prix Charles Peignot“ 
Buchstabenmuseum: Poster
Christoph Koeberlin: Buch „Vom Buch auf die Straße“ (Journal der HBG #3), Buch „House Industries“
Dan Reynolds: Buch „Formen & Gegenformen“
Friedrich Althausen / Monotype: Buch „Schrift. Wahl und Mischung“,  Monotype Goodiebag, Notizbuch mit Bleistift, 2 × 1 Jahr Zugang zu Monotype Fonts
Henning Krause: Buch „Chronik der Schriftgießerei D. Stempel AG Frankfurt a.M. 1895–1955“, Buch „Retrodesign“, Magazin „Typojournal” (Magazin von Typografie.info #3)
Hannes von Döhren: Specimens (Match, Palast)
Ivo Gabrowitsch: Lizenz Neue DIN
Jenna Gesse: Buch „Königswege zum Unglück“
Jesse Simon: Buch „Berlin Typography“
Juli Gudehus: Buch „Packaging Makeovers“
Katja Hofmann: Notizbücher
Klaus Rähm: Poster A3
Kulturraum Zwinglikirche e.V.: Buch „Adolf Wermuth“, Broschüre „Steine können sich nicht erinnern“
Patrick Marc Sommer: Magazine „FURE“, Bücher „Das ABC der Typografie“
René Bieder: Plakte (Markant, Multima, Kréol)
Sascha Thoma, Ben Wittner / eps51: Buch „Bi-Scriptual“
Sonja Knecht: Buch „Finding Forte“
Simon Becker / B2302:
Buch „Total Armageddon” 
Stefanie Weigele:
Buch „Spitzfederkalligrafie“
Stefan Pabst: Bücher „Futur 2“, „Fraktiqua“
Stefan Tielscher: Drucke Bleisatz (TStT-Jubiläumsposter, Geschenkpapier)
Thomas Maier: Bücher „Formen & Fonts“, Buch (?)
Till Wiedeck / HelloMe: Buch „Auf Wasser genaut“
Wolf Boese: Poster
Yimeng Wu: Plakat (chinesisches Alphabet)
Yulia Popova: Buch „How Many Female Type Designers Do You Know?“

Einige Teams bei der Arbeit:

Der frostfeste Kern nach dem Abbau. Danke!

Nachbericht 99. Typostammtisch: Buchvorstellungen

Ein sportliches Vortragsformat erfordert einen sportlichen Nachbericht: Foto Mensch(en) und Werk(e), kurzer Text, nächste(r) bitte! Alphabetische Reihenfolge. Bereit?

Till Wiedeck, François Elain: Auf Wasser gebaut

Till Wiedeck bringt die alphabetische Reihenfolge gleich zu Beginn ins Wanken, ist er doch auf Abruf, früher wegzumüssen. Der Wecker ist gestellt – 5 Minuten ab jetzt! Till zeigt das Buch „Auf Wasser gebaut“ über den deutschen Pavillion der Biennale Venedig (2009–2022) und spricht in English. “For all you typo nerds” he shows us a typeface designatedly designed for the book by François Elain at Till’s studio HelloMe and a really nice cover with inverted silver and white paper effect. Nice if you are into art books and catalogues.

Jenna Gesse: Königswege zum Unglück

Als nächstes kommt Jenna Gesse nach vorn, im Gepäck ihr strahlend gelbes Büchlein, das „Königswege zum Unglück“ aufzeigt, Strategien also, die wir lieber kennen sollten, um sie wahlweise zu bekämpfen oder wegzulächeln. Ein Beispiel? „Seine Vergangenheit nutzen, um die Gegenwart zu zerstören“. Jenna hat all diese Kurzsätze von Frank Berzbach auf einer alten Schreibmaschine getippt („weil ich wollte, dass man es sieht, wenn ich mit Kraft in die Tasten haue“). Die entstandenden Wortbilder geben dem Text weitere Ebenen. Für alle, die sich gern reflektieren oder noch „etwas Kleines“ verschenken möchten.

Oliver Johannsen, Reinhard Deutschmann: Hypergraphie

Nach dem Intermezzo mit der Schreibmaschine kommen Oliver Johannsen und Reinhard Deutschmann (ja, Künstlername!) vom Kollektiv Hypergraphie nach vorn. Hypergraphie ist ein manischer Zustand, bei dem Betroffene eine „zwanghaften Schreibwut“ auf allen Flächen erleben. Nicht ganz von der Hand zu weisen für ein Künster·innenkollektiv, das hauptsächlich Graffitti praktiziert. Einmal im Jahr sei „Tag der Abrechnung“: Alle Mitglieder zeigen schonungslos alle Arbeiten aus einem Jahr. Das Kollektiv diskutiert und sammelt den besten Content im hier präsentierten Magazin, inkl. lyrischen Sternstunden wie „Ode an den Backjump“. Zu erwähnen ist die DIN 1451, einstmals Normschrift für Verkehr und Logistik, die dem Katalog in mehrfach analog-digital-schablonierter Aufarbeitung als Headline-Schrift innewohnt (auch zu sehen auf der Webseite). Für alle, die sich für kollektiven Ungehorsam begeistern.

Frank Ortmann: Schreibenlernen mit der Hand bildet Formsinn und Verstand

Mit dem Schreiben kennt sich auch Frank Ortmann aus, der originale Schreibvorlagen zur Schulausgangsschrift (SAS) von und mit Renate Tost gesammelt, nachgezeichnet und in Buchform verewigt hat – einfach „weil es mich angekotzt hat“, dass die SAS als Auslaufmodell angesehen und immer gefragt wird: „Können wir die nicht weglassen?“ Nein, im Gegenteil, denn es gab noch keine Abhandlung über die SAS. Diese Lücke haben die beiden nun mit dem durchaus süffisanten Titel „Schreibenlernen mit der Hand bildet Formsinn und Verstand“ geschlossen. Für alle, die mal wieder zu den Ursprüngen zurückwollen.

Yulia Popova: How many female type designers do you know?

Yulia Popova is very glad to present her book “How many female type designers do you know?“ at Typostammtisch in particular because according to her, the project started at a Typostammtisch a few years ago. In her book, she portrays women in the industry, placing biographies at the beginning of the book because „they are important“. The project started as a graduation project and was extended by a large research part on early female type designers. Highly recommended and also part of our Typostammquiz Gabentisch in December. Thanks, Yulia! 

Ulrike Rausch: Making Fonts!

Die alphabetische Reihenfolge bringt mitunter schöne Cluster hervor: Als nächstes zeigt uns Ulrike Rausch (definitely a female type designer we know) die Bücher „Making Fonts“ und „Designing Fonts“, die sie gemeinsam mit Chris Campe geschrieben hat. Wem der Unterschied zwischen beiden Titeln spontan nicht klar ist: es gibt leider viele. Eigentlich sollte „Designing Type“ lediglich die englische Version von „Making Fonts“ sein, am Ende sieht es aber aus wie ein anderes Buch. Nach fünf Minuten Blättern unter der Kamera und kurzweiligen Insights zu Verlagsentscheidungen steht fest: das Buch für alle, die digitale Schriften machen oder machen wollen.

Martin Z. Schröder: Essayreihe

„Was kann man da machen, mein Buch ist so hässlich?“ Fragen wie diese hört Martin Z. Schröder öfter. Üblicherweise rät er: „Nichts. Wechseln Sie den Verlag!“ – wieder so eine Überleitungsperle der alphabetischen Abfolge, vielleicht aber auch schriftgestaltungsimmanentes zwanghaftes Herstellen von Parallelen in einer diversen Menge. Bitte um Nachsicht. Zurück zu Martin Z. Schröder, dessen besagter Ratschlag der Anfang einer bisher 12-jährigen Zusammenarbeit an der Essayreihe des Verlags Zu Klampen war. Ziel der Neugestaltung der Serie (in Abgrenzung zu „diesen ewigen Ölgemälden“): rein typografische, zeitlose Titel, „kein Brimborium“. Durchdachte Gestaltung und durchdachter Inhalt. Für alle, die gern im Bett lesen (die Fußstege sind nämlich extra breit für die Daumen).

Jesse Simon: Berlin Typography

Next one up: Jesse Simon (our host of October’s type walk). Welcome back! Jesse shows his book “Berlin Typography” and explains that this project started in 2016 by spotting the “Betten-König” sign in Lichtenrade. Afterwards, he headed over to documenting the city rigously. “And by ‘rigously’, I mean walking every street (multiple times)”, Jesse explains. Somehow, his efforts are “a race against time” because a lot of signs are disappearing, unless buildings are protected by Denkmalschutz which means that the signs will stay as well. We are happy to have a copy of “Berlin Typography” on the Gabentisch. Thanks, Jesse!

Patrick Marc Sommer: Das ABC der Typografie

Patrick Marc Sommer zeigt uns das Buch „Das ABC der Typografie“, das er gemeinsam mit Natalie Gaspar geschrieben hat. Entstanden ist das Projekt zu Beginn der Corona-Zeit, dementsprechend gäbe es „abwischbares Papier“. „Wir wollten ein kleines Buch machen, aber es sind dann doch 400 Seiten geworden“, so Patrick weiter. Das Werk ist sehr nah an In Design und gibt praktische Hinweise zu vielen, vielen alltäglichen Themenbereichen der Gestaltung mit Schrift. Hinsichtlich der bald erscheinenden 2. Auflage ruft er zu Verbesserungs- bzw. Ergänzungsvorschlägen auf. Laut Selbsteinschätzung „für Studierende und Berufseinsteiger·innen“.

Felix Walser: Ruth Wolf-Rehfeldt

„Vor 5 Jahren war ich schon mal beim Typostammtisch und habe etwas vorgestellt.“, sagt Felix Walser, der uns den Katalog zur tollen Ruth Wolf-Rehfeld Ausstellung im Berliner Kupferstichkabinett mitbringt. Er erzählt, ähnlich wie Jenna Gesse, von den technischen Limitationen, die das Medium Schreibmaschine mit sich bringt und es gerade deshalb, gerade heute so interessant machen. Es sei nicht so einfach, den Typewritings von Wolf-Rehfeld im Katalog „gestalterisch etwas entgegenzusetzen“, so Felix. Da die Texte jedoch „einen Monat zu spät kamen, hatten wir Zeit“. Am Ende fand doch noch die eigens für das Projekt digitalisierte Variante einer alten DDR-Schreibmaschinenschrift ihren Platz im Buch. Für Ausstellungsbesucher·innen und Schreibende.

Stefanie Weigele: Spitzfederkalligrafie

Als nächstes begegnen wir der beeindruckenden Schreibkunst von Stefanie Weigele, die ein Kompendium zur „Spitzfederkalligrafie“ geschrieben hat. Es bietet umfassende Informationen zu Ursprüngen (klassische englische Schreibschrift), Werkzeugen, Übungen, Körperhaltung, Verzierungen, und und und, was uns Stefanie mit der ihr innewohnenden, mitreißenden Begeisterung für das Thema vorträgt. Für alle, die sich für 2023 etwas vorgenommen haben – und zu gewinnen beim Dezemberquiz. Danke, Stefanie!

Sascha Thoma, Ben Wittner: Bi-Scriptual

Ben Wittner und Sascha Thoma leiten mit ihrem Buch „Bi-Scriptual“ den letzten Teil der Buchvorstellungen ein – qua alphabetischer Reihenfolge ein Cluster, das sich mit Multiscript-Typografie beschäftigt. Die beiden waren im September schon bei uns zu Gast; heute geht es ausnahmslos um das Buch. Aufgeteilt in die Kapitel Arabic, Cyrillic, Devanagari, Greek, Hangul, Hanzi, Hebrew, Kanji/Hiragana/Katakana, sowie einen Essaypart, gibt es uns Herangehensweisen und Beispiele zur Gestaltung mit mehreren Schriftsystemen an die Hand. Für alle, die über den Tellerrand blicken.

Yi Meng Wu: Yaotaos Zeichen

„Yaotaos Zeichen“ von Yi Meng Wu ist ein Kinderbuch. Ein Herzensprojekt, in dem Yi Meng ein franko-chinesisches Umfeld zeichnet. Es geht um ein Archiv chinesischer Schriftzeichen in Lyon, das es wirklich gibt, und um die Zeit zwischen den Weltkriegen, „als das Bauhaus nach China schwappte“, wie sie erklärt. In der Geschichte findet ein kleines Mädchen einen Koffer mit chinesischen Schriftzeichen und macht sich auf eine lange Reise. Ausgezeichnet als eines der „schönsten Bücher Chinas“. Für vorlesende Typografiebegeisterte.

Susanne Zippel: Meine Heimat Zwei Länder

Den Abschluss bildet Susanne Zippel mit ihrem Buch „Meine Heimat Zwei Länder“. Dieser Satz stimmt zwar grundlegend, trotzdem zeigt er nicht annähernd, welches Ausmaß dieses Projekt hat: Es geht um nichts weniger als persönliche Geschichten von Menschen, die die Wende miterlebt haben. Schonungslos, ehrlich, aufwühlend. Susanne hat alles selbst zusammengetragen, gestaltet und verlegt (Exemplare auf Anfrage). Jedes Buch hat ein individuelles, magnetisches (Wende-)Cover und beinhaltet jede Menge Herzblut. Und als wäre das nicht genug, hat Susanne auch koreanische Freunde, die mit der Teilung ihres Landes ähnliche Erfahrungen wie wir gemacht haben, zu ihren Geschichten befragt. All diese Erfahrungen stellt sie gegenüber und nebeneinander. So schön unser 5-Minuten-Format ist – für Susannes Buch war es zu kurz. Das Buch für alle, die sagen wie es ist und war.

Stillleben mit Lampen und Büchern

Nach den Vorträgen blieb viel Zeit, um die Bücher in Ruhe anzuschauen.

Jesse Simon shows the initial sign: “Betten-König”.

Das Publikum lauscht Martin Z. Schröder.

Die Intensität von Susanne Zippels Projekt geht unter die Haut.

Quizfrage zum Abschluss: Wie viele Bücher hat Ulrike Rausch geschrieben?

Nachbericht 98. Typostammtisch: Type Walk with Jesse Simon

Nur so viel auf Deutsch: Das war ein Hammer. Auf dem Type Walk mit Jesse Simon – es wird nicht der letzte sein! – haben wir so viel über unsere Stadt gelernt wie selten. Und das kondensiert auf einen kurzen Abschnitt der U-Bahnstrecke U7. // The rest of our Nachbericht will be in English so that we can quote easier from what we learned with Jesse Simon at his first Schriftspaziergang with us. Disclaimer: it will not be the last, he promised.

Soviel sei jetzt schon verraten: Es wird Nachschulkurse in städtischer Typografie mit Herrn Simon geben. // Starting our first, but surely not the last of Jesse’s Type Walks with us. (All photos Lucas de Groot except a few by the author herself.)

Ja, wir finden auch, dass das ein Grund zur Freude ist! // Did you recognise where we are?

U-Bahn-Typografie, Symbolbild. Was könnte es Schöneres geben als funktional genutzte Buchstaben. Exemplarisch: Regenrinne. // Surely Berlin’s most beautiful rain gutter: a lovely bold U in the U-Bahnhof’s outer architecture.

Die schönste Regenrinne Berlins. // From the very start, Jesse pointed out (and pointed at) details you wouldn’t have noticed even when travelling a thousand times by this very station.

We started our tour underground at Fehrbelliner Platz. With public transport in Berlin, like elsewhere, “it is all about standardisation versus random organic growth” and these two concepts surpass each other again and again. This is how Jesse introduced us to the topic, and into that glorious period in the Sixties and Seventies, when 60 (!!!) new U-Bahn stations were built in Berlin. Almost all of U7 was constructed then, Fehrbelliner Platz in the year 1971. In comparison: only 11 new stations have been built from 1989 until now, in 28 years. “Berlin’s U-Bahn was formed by the forces of history more than a grand plan“. So one specific thing about the Berlin U-Bahn is, that “it is full of gaps, it’s incomplete” — even districts have been built with U-Bahn stations being promised which were never built (referring to Märkisches Viertel and large sections of Spandau).

Eine wichtige Nord-Süd-Achse durch Berlin. // The first section of what wold become the U7 was built in 1924–1930 as a branch of the Nord-Süd line.

The U7 stations we know and those we visit today were designed by Rainer Gerhard Rümmler (Wiki article with all his stations listed). Rümmler was the Oberbaurat (Chief City Planer) of Berlin, working for the senate’s building and housing department. Another important name here is Werner Düttmann who constructed the Hansa-U-Bahn station, but mostly other buildings (not stations) in the post-war era.

Habt ihr jemals die Riesenpfeile beachtet, die die Fahrtrichtung anzeigen? // Adorably über-practical arrows!

What we see today, is that each station we encounter at the U7 was designed with concern and a concept of having them integrated into their surroundings — still standing out in function and aesthetics. And the aesthetics of those days was astounding. It was functional and practical and deeply humanistic at the same time.

Zutiefst humanistisch und funktional. // The aesthetics of those times were as humanistic as functional, which is strongly connected of course.

The times demanded to develop truly unique stations after those from earlier days had been criticised as “too samey”. So, from that on, “Rümmler started to develop his Berlin vernacular style where everything was about difference”, Jesse summarises. “The pop architecture of the late Sixties was about breaking away from the rigid forms of pose-war modernism and moving into a brighter future where everything is curved, soft and gentle”.

Curved, soft and gentle indeed: outdoors at Fehrbelliner Platz, we find ourselves standing at a red organic-shaped happiness of a building from the Seventies like on a sunny island — even more so because we are surrounded by, frankly speaking, fascist architecture. Buildings from the early Thirties which yes, “spread some elegance”, but most of all an air of correctness, control and overwhelming dominance.

What a contrast: monotonous, neutral, dominant buildings caging Fehrbelliner Platz…

… with our instant fave station like a bright red round spot or dot in the middle.

Talking about dots: not sure why these dots are here, may because of differentiation. // Punkte für Wiedererkennungswert? Sicher nicht durch eine Akzidenz Grotesk mit seltsam abgeschnittenen Kleinbuchstaben r.

Except for the nosy interruptions, this was a good spot for a little lecture along the trip.

For those who know or who travelled through: the Bierpinsel in Steglitz at the U9 extension would be another great example of those days, almost like a monument; and also Dreilinden is part of Rümmler’s famous legacy. Like Tegel airport and all the stations on the way to Tegel, those buildings were designed in the times when the city was divided. Which also were the times when architects used Letraset. Letra-, wait, what?

Am U-Bahnhof Jungfernheide erwartet uns eine weitere Farb- und Formexposion. // Letraset-inspired architecture? Actually, architects did work with those (in case you don’t know) sticking letters which the elderly amongst us loved.

Die Eurostyle ist eine 1962-er Neuerscheinung von Aldo Novarese für Societa Nebiolo S.p.A. und H. Berthold AG, eine überarbeitete und mit Kleinbuchstaben ergänzte Version der Microgramma von 1952. // U7 Jungfernheide turns out to be another psychedelic experience.

At some point during our tour, Jesse leaves “the path of non-commentary objectivity”, as he warns us. The Sixties and Seventies are “the most endangered era of architecture being destroyed. It seems to be a problem to still accept that Berlin was being capable of taking care of itself”. To him (not only to him), this is “really problematic”. Because what makes Berlin so great is that you can (still) see all the layers formed by history – buildings as the truest proof, like eyewitnesses of the times the city has gone through. 

Schrift erkannt? Es ist die Arnold Böcklin, 1904 von der Schriftgießerei Otto Weisert in Stuttgart entworfen. // “For those who were into Eighties indie rock: Dinosaur Jr. used this typeface for their 1st and 2nd albums”, Jesse reports.

Bitte das Kleingedruckte in den Fliesenaussparungen beachten (rechts im Bild). // Please note the inserts in the tiles: they contain captions to the pictures of Wagner operas on the U-Bahn walls behind the tracks, which you see while waiting.

Ornaments impersonating Wagner operas plus explanatory photos. // Wilde Illustrationsmixtur am Richard-Wagner-Platz.

The most shocking example of historical misrepresentation, not to speak about falsification — in German we have the beautiful word Geschichtsklitterung — awaits us at Bismarckstraße. Beware. That glossy grass-green of the underground walls of the station might be considered “a fine colour” — but why is it here? Not to mention the typefaces.

“Bismarckstraße” left … // und keine fünf Meter weiter…

… another “Bismarckstraße”, right-hand side from where we stand. We couldn’t stand looking for too long. // Typografisch war die Tour kaum auszuhalten. Was wir alles sehen mussten an Schrift. Deswegen so wenig Kommentar dazu.

The walls at Bismarckstraße used to be in small yellow Sixties tiles. Now, why so huge? And what was the motivation behind the choice, or rather, the mix of type here? Why re-implement some kinds of wanna-be Twenties type in a station from a much later period? Nobody seems to take care. „There is no respect for the era of division”, Jesse says in a dark voice. As true and cruel as it is: tourism rules.

Dem guten Geschmack wir hier auf der Nase herumgetanzt. // “There is no respect for the era of division”, our tour guide says.

Sadly, there has not been something like a conscious “choice” whatsoever here, not color, not type. The whole renovation of Bismarckstraße U-Bahn station is, in the best way of interpreting it, “an attempted level of classicism that doesn’t belong here”. Even with a lot of goodwill this is not convincing or satisfying.

Luckily Jesse takes us further through Berlin’s diverse underground to experience some more of the gorgeous psychedelic settings along the U7.

Schrift halbwegs okay (man muss ja schon froh sein) nur kein Eszett. Und warum so sachlich auf explosivknalligem Grund?

Bei einem kurzen Zwischenspaziergang auf Höhe Wilmersdorfer Straße begegnen wir diesem schönen Schriftzug. // An outdoor encounter that would also have fit the city type walk we had lately.

Back on the track. We spent three hours with Jesse and he was truly generous with his knowledge. // Unsere Tour war höchst kurzweilig, nicht nur, weil wir etappenweise weiterfuhren.

But what happened here at Adenauer Platz?! // Schnell weiter!

Das hier ist Jesses Lieblingsbahnhof. Hier stimmt für ihn alles, sogar die Schrift schmiegt sich harmonisch ein. // We still miss the Eszett, but this is by far the most elegant and harmonious U7 station to Jesse.

Here at Konstanzer Straße, Jesse points out the strong links between design, colours, architecture, function, and how everything fits. // Hier passt alles zusammen, Form- und Farbgebung harmoniert.

Ein apartes Detail vom Anfang der Reise. // This was at the U3 entrance at Fehrbelliner Platz. “The same gate appears at Hohenzollernplatz, Jesse said. “I like that Rümmler incorporated it into this very modern building s a not to the past.”

After all this variety of impressions and numerous stations, our group happily walked from Zoologischer Garten to Schleusenkrug beer garden, also a premiere. There we not only could supply our speaker with his well-deserved beer, but also enjoy a true Berlin Currywurst and very nice potatoes and stuff. Which lifted our spirits in regard to the city’s originals. So, the evening ended in a big group table with those visitors who came directly to Schleusenkrug, with heated conversations, and more beer. A true Typostammtisch-Stammtisch after all. Phew.

Thank you Jesse for this most wonderful Type Walk! Lovely meeting you! Let’s continue the ride.

Thank you Jesse Simon! You might like to find out about his books and follow him (aka Berlin Typography or @Berlin_Type) on Twitter and Instagram. — Photos Lucas de Groot (plus a few by Sonja Knecht) for Typostammtisch Berlin.

Nachbericht 97. Typostammtisch: Eps51

Aus zwei geplanten Vorträgen wird an diesem Abend einer: Pia Christmann und Ann Richter von Studio Pandan müssen leider kurzfristig absagen. Schade und gute Besserung, wir finden bestimmt einen Nachholtermin.

Bevor es losgeht: Auf ein Kennenlern-Chili und Tannenzäpfle Bier mit Sascha Thoma und Ben Wittner von Eps51. Chili: lecker. Bier: schmeckt für Sascha als einem gebürtigen Schwarzwälder nach Heimat. Es gäbe aus dieser Gegend neben dem genannten noch Waldhaus Bier, das sei noch ein Stück besser, in Berlin aber schwer zu bekommen. Immerhin die zweitbeste Wahl im Getränkemarkt getroffen, puh.

Mit dem Thema Herkunft geht’s direkt weiter, als die Lichter ausgehen und der Beamer an: „Warum haben wir so ’nen doofen Namen?“ leitet Ben ein. Klar, denkt man, eps = encapsulated post script, nicht unbekannt in der Gestaltungsbranche. Die Zahl? Tja, nun.

 

Alles viel zu weit gedacht: „Wir haben uns in der Erbprinzenstraße 51 in Pforzheim kennengelernt.“ Ach so! Kontaktaufnahme mit den ca. 51 Anwesenden im Publikum: „War schon mal jemand in Pforzheim?“ Einige zaghafte Meldungen, dann große Einigkeit darüber, dass gerade eine Kleinstadt wie Pforzheim die Community nährt – besonders wenn man sich dort während des Studiums kennenlernt, wie die beiden Vortragenden. 

Irgendwann geht es für die meisten aber raus aus der Kleinstadt, hinein in die weite Welt. So auch für Ben und Sascha, die seit 2008 in Berlin sind. Ihr Designstudio Eps51 ist mittlerweile gewachsen und zählt heute 10 Mitarbeitende. Gemeinsam gestalten Sie vor allem für die Kulturbranche: Kunstraum Kreuzberg, Tanzfabrik Berlin, Kommunale Galerien Berlin, die Berliner Festspiele. Gerade bei letzteren zeigt sich der Gestaltungsansatz des Studios: Eine Schrift für jedes Festival; die Visuals entstehen assoziativ, teilweise zufällig. Ob Farbe und Olivenöl in einer Müslischüssel oder ab in den Baumarkt, um aus Beton Objekte zu bauen: „Funktioniert auch als Keyvisual“, so Ben. 

Farbe, Olivenöl, Müslischüssel für das Musikfest Berlin 2019. Foto: Eps51

„Ich hab im Studium schon davon geträumt, einer Kundin einen schwarzen Strich auf einem Poster zu verkaufen“, so Ben. Beim Jazzfest Berlin 2019 wurde der Traum dann wahr. Foto: Sonja Knecht

Man kann also behaupten, Eps51 seien stilprägend für die Berliner Plakatlandschaft. Moment, „Wir machen keine Plakate mehr“, sagt Ben und konkretisiert: „Wir sind zwar klassische Printdesigner, aber wir differenzieren nicht mehr zwischen Print und Digital. Alles bewegt sich für Social Media.“

Und so zeigen sie bewegte Gestaltung, die Genregrenzen und Schubladenwände zum Schmelzen bringt – ganz wie die Kunst, die hier repräsentiert wird.

Das ICC Berlin war so ein allumgreifendes Projekt. Unter dem Motto The Sun Machine is coming down belebten die Berliner Festspiele 2021 das legendäre ICC wieder und öffneten es 10 Tage lang für Kunst, Kultur und Architektur – mit 70es Vibe und zugleich Blick in die Zukunft. Eps51 gewannen den Gestaltungsjackpot und entwickelten Visual Identity, Printmedien, Social Media, 3D Animation, Trailer, Ausstellungsdesign und Wegeleitsystem in einem. Wow, da kommt die Sonnenmaschine auf Touren.

Foto: Sonja Knecht

„Unsere Neuerfindung“: Das ICC als utopisches 3D-Rendering. 

Als Berliner Typostammtisch finden wir Berlin selbstredend toll – es ist aber auch nicht die ganz weite Welt, muss man sagen. Sascha und Ben kommen zur Biennale nach Venedig, wo sie 2019 den arabischen Pavillon gestalteten. Bens Lehrsatz: „Das wichtigste auf einem Kunstfestival sind die Tote Bags. Der Pavillon, der den schönsten Jutebeutel hat, bekommt am meisten Aufmerksamkeit.“ 

Foto: Eps51

Spätestens mit diesem Projekt klingt die Liebe zur arabischen Typografie an. Ihre Anfänge nahm sie für Ben und Sascha in Kairo. Streifzüge durch die Stadt waren interessanter für die beiden als Kurse an der Austausch-Uni. So kamen sie ab 2004 immer wieder nach Kairo und entdeckten über die Jahre eine Stadt, in der auf Beschilderungen „selbst der kleine Elektrikerladen vom Youssef ‚Electricity‘ auf Englisch schreibt“, so Ben. 

Reklame für besagten Elektriker. Foto: Sonja Knecht

Take this, Schilderwald Deutschland! Foto: Sonja Knecht

Ein Paradies für multilinguale Typografie also – für Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Missverständnis und Verständnis. Für Interpretation und Annäherung. Ein großes Thema, das Sascha und Ben auch in ihrem Buch Biscriptual beleuchten, 2018 erschienen im Schweizer Niggli Verlag. Hier geht es neben dem Zusammenwirken von Arabisch und Latin auch um interkulturelle Gestaltung mit Kyrillisch, Griechisch, Hangul, Devanagari, Japanisch und Chinesisch.

Eine Frage, die auch Schriftgestaltenden oft begegnet: Muss man die Sprache sprechen, um die Zeichen zu zeichnen bzw. anzuwenden? Sascha und Ben haben ihre ganz eigene These dazu: Sie selbst hätten keine Arabischkenntnisse, jedenfalls nicht über die folgenden vier Faktoren hinaus: Soziokulturelle Aspekte, Ästhetik, Sprache/Script, Technologie. „Be humble und informier dich über diese vier Bereiche, bevor du mit einem Script gestaltest, das nicht deine Muttersprache ist.“, so Ben. 

Welche Herangehensweisen und Tipps haben die beiden? Reisen! Lernen! Immer Muttersprachler·innen fragen, gern mit Designkompetenz. Den Schriftstil der jeweils zuerst dagewesenen Komponente nicht imitieren, sondern die Anatomie der scriptinternen Eigenarten beibehalten. Ben und Sascha zeigen viele Beispiele für Gestaltung mit mehreren Schriftsystemen – interessante, gekonnte, lustige, gruselige: zum Beispiel Latin mit verkehrten Kontrasten oder Arabisch, das den Duktus gebrochener Schrift imitiert.

Übertragung von scriptinternen, historisch gewachsenen Prinzipien funktioniert meist nicht.

Die arabische Adaption des Vodafone-Logos basiert offensichtlich auf dem vorhanden lateinischen e. Mittlerweile sei dieses Logo glücklicherweise überarbeitet, so Ben.

Gefundenes Fressen für interkulturelle Schriftfeldforschung in den Straßen Kairos.

Wie man die Leserichtung bewusst in die Gestaltung einbinden kann: In dieser Publikation entscheiden Leser·innen vor Gebrauch, welche Seite der Bindung aufgeschnitten wird.

Schriftwahl is key. Hier ein gelungenes Beispiel, in dem Latin und Arabisch eine unverkennbare, ästhetische Einheit bilden.

Auch hier eine gelungene Einheit, diesmal von Chinesisch und Latin.

Was heißt Harmonisierung, wenn man mit verschiedenen Schriftsystemen gestaltet? Muss alles immer gleich aussehen? Nicht unbedingt: Faktoren wie Ausgewogenheit, Leserichtung und -gewohnheit, Kontraste, Strichstärken, Textmenge spielen eine Rolle. Eine gemeinsame optische Klammer muss gefunden werden. Steht übrigens alles im Buch.

Abschließend, bevor eine angeregte Diskussion mit Stimmen aus dem Publikum startet, noch der durchaus nachklingende Satz: „Keine Angst haben, sonst macht man gar nichts.“

Darauf ein Schwarzwälder Bier. Vielen, vielen Dank an Sascha und Ben!

Nachgespräch moderiert von Lukas Horn. It’s all about intercultural understanding! Amen.

Interessiertes Publikum, zahlreich erschienen.

Ging ganz schön lang diesmal … Danke an alle Gäste und Helfer·innen! Stellvertretend hier winkend Zita Kayser, zu Besuch aus Wien. Foto: Sonja Knecht

Friedrich Althausen, Georg Seifert, Kai Sinzinger und Andreas Frohloff

Nachgespräch 96. Typostammtisch: Street Type Walk mit Oli und Martin

Vorfreude durch Toilettenpoesie

Der Typewalk hat noch gar nicht angefangen, da winken schon die Zeichen. Na dann …

Anja:
Lieber Lukas. Ich bin immer noch ganz beschwingt und im Flow von gestern. Graffiti und Stammtisch – Graffitisch und Stammiti. Egal, ich schweife ab. Toll, dass du Oli und Martin angefragt hast! Die beiden haben uns so viele Ecken gezeigt und große und kleine und keine Geheimnisse verraten … Wie geht’s dir heute morgen?

Lukas:
Hey Anja, du fasst das sehr gut zusammen, mir geht es ähnlich. Beschwingt und im Flow! Ich muss gestehen, dass ich vorher ziemlich aufgeregt war. Ich hatte mich die ganze Zeit gefragt, wie Graffiti beim Typostammtisch-Publikum ankommen würde. Würden die Teilnehmenden aufgeschlossen oder skeptisch sein? Auf jeden Fall haben Oli und Martin mit ihrer Art alle Barrieren abgebaut, falls dort welche gewesen wären. Wie hast du es empfunden als Schriftgestalterin? Was war neu für dich, was hat dich inspiriert und natürlich auch: Wie hast du die Gruppe wahrgenommen (die übrigens eine spannende Mischung von Menschen aus verschiedenen Altersgruppen und unterschiedlichen Arbeitsfeldern war)?

Treffen in der Hitze. Kurze Vorstellung und los geht’s!

Selber machen! Unsere Guides erklären ihre Idee des kollektiven Skizzierens im Biergarten. Dazu später mehr.

A:
Oli und Martin sind als Guides auf jeden Fall sehr empfehlenswert. Kurzweilig, witzig, kompetent, authentisch (da war er wieder, der -tisch). Es waren ja trotz Affenhitze ca. 15 Leute da (null Skepsis übrigens), mehr Frauen als Männer. Ich finde das deshalb erwähnenswert, da sich Martin und Oli intensiv mit der Teilhabe von Frauen im Graffiti beschäftigen: Sie gendern konsequent, rufen zur Selbstreflektion der Community auf, wirken auf mich absolut integrierend, obwohl (oder gerade weil) die Graffitikultur immer noch sehr männlich konnotiert ist.

Die beiden erwähnten im Laufe des Rundgangs auch weitere Schattenseiten: Kriminialisierung und teilweise auch Kriminalität, ein individuell selbstgezimmertes und nicht definiertes Moral-Gerüst, Rivalitäten und durch die Verdrängung ins Dunkle auch eine Art innewohnender Weltschmerz. Diese Gratwanderung zwischen Kunst und Kriminalität und was Oli und Martin dazu zu sagen hatten, fand ich sehr spannend. Wie ging es dir da? Du bist ja mit deutlich mehr Vorwissen in den Rundgang gestartet. Was hast du gelernt?

L:
Stimmt schon, ich bin mit Vorwissen reingegangen, muss aber sagen, dass viel auch für mich neu war. Das liegt daran, dass die beiden eine so tiefe Sicht ins Innenleben der Graffitiszene haben (selber in einem Kollektiv, gute Connections und eine eigene Meinung). Als ich noch Dorfkind war, habe ich erst richtig angefangen mich für Schrift zu interessieren, als ich Graffiti entdeckt habe. Gerade die Bilder, die aus Martins und Olis Umfeld stammten, haben mir einen richtigen Schubser in die Schriftwelt gegeben. Und jetzt höre ich von den beiden diese ganzen persönlichen Geschichten – schon abgefahren!

Ich mochte besonders, dass sie uns an die Nicht-Orte geführt haben (so wie Martin sie nannte). So Orte mitten in Berlin, wo einfach Stille herrscht und die Zeit etwas langsamer tickt. Aber drumherum ist Tumult, ganz normal. Das hatte was Poetisches. Dass wir als Gruppe einfach eine Abzweigung hinterm busy Supermarkt nehmen und plötzlich auf einer leeren Grünfläche stehen, ganz alleine. Und da ist dann Platz für Schrift, für Graffiti, für expressive Spielereien. Da hatten wir dann ja lustigerweise Zeit, Buchstaben zu erraten (oder auch nicht, hehe).

Nicht-Orte: Sie liegen mitten im überlebendigen Berlin, doch dort herrscht Ruhe. Die beiden zeigen uns mehrere davon, hier die Wiese hinter einem Supermarkt. Ein Ort für Schrift.

Buchstabenquiz hinterm Aldi. Wenn man sich viele Graffitis anschaut und versucht sie zu lesen, wird es irgendwann leicht fallen auch das hier zu lesen. Anhaltspunkte geben natürlich auch bekannte Sprayer·innen-Namen und deren Styles, die man wiedererkennt. (Bitte raten!)

Und wie du schon erwähnt hast, ich finde es auch total cool, dass die beiden ständig darüber reflektieren, was Graffiti heute bedeutet, wer daran Teil haben darf, was gut läuft und was sich verändern muss. Und sie sprechen nicht nur darüber, sondern setzen es auch in die Tat um. Wie bei ihrem Hypergraphia Festival in Potsdam, bei dem echt viele weibliche Graffiti Artists dabei waren. Das scheint sonst nicht die Norm zu sein.

Was hast du eigentlich Neues über Buchstaben erfahren? Also ich meine: Formen, Herangehensweisen, Techniken – sowas in die Richtung. Und dann würde ich auch sehr gerne von dir wissen, was dein Lieblingsort auf der Tour war und warum!

A:
Neulich hinterm Aldi – ja, das fand ich auch sehr cool. Ich konnte kaum eine Buchstabenform erkennen. Aber die beiden haben ja auch erklärt, dass bis ungefähr zu den 2000er Jahren ein Ausfeilen der Stile und Techniken zu beobachten war, bis viele Kollektive es dann irgendwann so perfekt drauf hatten, dass es ihnen langweilig wurde und sie sich an den Spaß und die intuitive, mitunter kryptische Herangehensweise erinnert haben (Anti Style). So entstehen dann tanzende Formen wie oben zum Beispiel.

Dass Graffiti tatsächlich etwas mit Tanzen zu tun haben kann, war mir neu: Martin und Oli haben die Körperlichkeit, die vor allem das schnelle Malen (Throw Up) erfordert, erklärt und auch demonstriert. Sie kreisten die Arme, reizten ihre Spannweite aus, gingen in die Hocke, federten und waren eins mit der Bewegung. Jeder für sich nach individuellen körperlichen Gegebenheiten und trotzdem fast synchron. Also ich klick’ ja sonst eher die Maus 😉

Das Tag kann die rudimentärste Form von Graffiti sein (hier weiß: „typo“).

Graffiti (vor allem die schnelle Variante Throw Up) sei wie tanzen, sagen die beiden. Das sieht man. So federt man synchron!

Martin und Oli am Abbubblen. Bubblestyle hat Tradition im Graffiti. Manchmal sprüht man nur einen Buchstaben (hier: B), der ähnlich wie ein Logo funktioniert.

Ansonsten war mir alles Mögliche neu: Fachbegriffe wie Headbangen (kopfüber auf dem Dach liegend mit der Farbrolle malen), Layup (kurz zu Reinigungszwecken abgestellte Züge bemalen) und Caps (verschiedene Sprühaufsätze ähnlich Pinselspitzen), dazu Infos über Farbzusammensetzung, verschiedene Crews und Umweltprobleme durch viel Abfall. Aber ich gehöre eben auch zu den Toys (sozusagen die Muggel der Graffitiwelt).

Du fragst nach meinem Lieblingsort. Mich hat nicht ein Ort speziell beeindruckt, sondern eher eine Aussage zum Thema von Oli: Für ihn hat Graffiti viel damit zu tun, hinter Türen zu schauen („hinter einer Tür öffnet sich plötzlich eine völlig neue Welt“), auch metaphorisch gesehen auf die andere Seite zu blicken, über Zäune zu gehen – manchmal über die im eigenen Kopf. Die Gratwanderung, das Dialektische, die Grauzone, das finde ich über Buchstabenformen hinaus das eigentlich Interessante. Denn bei aller Faszination muss man natürlich sagen, dass es deutlich mehr illegale Flächen gibt als legale. Deshalb meine etwas aufmüpfige Frage an dich: Du, Lukas, wem gehört eigentlich die Stadt?

L:
Der Deutsche Wohnen würde ich sagen, nech? Die Frage ist total präsent in Berlin, vor allem wenn’s ums Wohnen geht. Auf der einen Seite Konzerne mit viel Geld und Besitz und auf der anderen Seite die Bevölkerung, die wohnen möchte (ohne davon arm zu werden oder ständig aufgrund von Preissteigerungen umziehen zu müssen). Was die beiden erzählt haben, als wir vor dem großen Wandbild an der Schönhauser standen, fand ich sehr interessant. Das Mural war von einem neuseeländischen (bald aotearoaischen?) Freund legal gemalt worden, im Auftrag der Hausverwaltung.

Zu Graffiti gehören auch Wände, die in Auftrag gegeben werden. Diese stammt von einem Neuseeländer (einer der ersten Menschen, die ihren Doktor in Graffiti gemacht haben). Solche Arbeiten werden in der Szene gleichzeitig hoch geschätzt und abgelehnt, denn sie tragen auch zur Gentrifizierung und somit Verdrängung bei.

Im Gespräch kamen wir auf beauftragtes Malen. Martin erzählte, dass er für eine große Wand angefragt wurde und schon mitten in den Vorbereitungen steckte, als er plötzlich erfuhr, das die Deutsche Wohnen hinter dem Auftrag stand. Er brach ab, weil er keine Lust hatte, den Wohnkonzern mit seiner künstlerischen Arbeit zu unterstützen. Diese Anekdote reiht sich in die Tendenz ein, dass die Stadt zunehmend unter großen Konzernen aufgeteilt wird. Interessanterweise dient Graffiti manchmal dazu, ein Viertel erst hip zu machen: Der Wert einer Immobilie kann gesteigert werden, wenn ein schönes Graffiti dran klebt. Gleichzeitig kriminalisiert man den Weg dorthin, denn viele Künstler·innen sind in der Graffitiszene groß geworden.

Graffiti trägt die Frage, wem was in der Stadt gehört, spielerisch und plakativ in den öffentlichen Raum. Die Grenzen zwischen Besitz und Nichtbesitz werden verschoben, weil Crews oder einzelne Sprayer·innen sich mit Hilfe von Farbe und Botschaften bestimmte Spots, Fassaden, Orte oberflächlich aneignen und damit sagen: „Das ist jetzt meins, äätsch!“. Dabei gibt es verschiedene Facetten: Crews, die offen und frei sind (so wie Oli und Martin) und dann die Gangster, also Crews, die mit Kriminalität zu tun haben (Drogen, Waffen, Gewalt) und das auch nach außen kehren. Aber Hin oder Her, die Diskussion über Besitz und Teilhabe wird von Graffiti stark befeuert, behaupte ich mal. Es werden Machtverhältnisse hinterfragt.

Schicht über Schicht, Schicht gegen Schicht, Schicht für Schicht. Philosophie und Graffiti an legalen Wänden im Mauerpark.

Und wortwörtlich Farbschichten übereinander, Graffiti-Ringe quasi. Kann man zählen, dann weiß man wie alt die Wand ungefähr ist.

Was mir noch auf der Seele brennt: Die beiden hatten ein Blackbook dabei. Und ich habe gesehen, dass du auch akribisch reingemalt hast. Und das Buch hat dann die Runde im Prater gemacht. Was hat es damit auf sich gehabt?

A:
Haha, gute Überleitung. Ein bisschen Moderation muss schon sein in einem Nachgespräch. Nach so viel tiefgründigem und philosophischem Vordringen in Raum und Zeit endete unser Spaziergang nämlich, du sprichst es an, bei einem kühlen Bier im Prater und ging damit nahtlos in einen Typostammtisch im klassischen Sinn über. Es gesellten sich viele weitere Gäste dazu und so verbrachten wir den Abend glücklich und zufrieden bis es dunkel war … Moment – das Notizbuch!

Martin und Oli hatten die Idee, die freie und intuitive Herangehensweise an Buchstaben, die sie uns in ihrer Throw Up Session näher gebracht haben, in den Biergarten mitzunehmen. Das sah dann so aus, dass sie immer ein paar Buchstaben vorgegeben haben und die Anwesenden dazu Entwürfe beitragen sollten. Zum Beispiel kann ich mich an eine Aufgabe erinnern, drei Versalbuchstaben in einem Zug zu schreiben (Oneliner). Je später der Abend wurde, desto lustiger wurden natürlich auch die Aufgaben, z.B. „ein P, das hilft“ oder ein „Symbol mit O“. Dieses um die Ecke denken hat mir (und anderen) jedenfalls großen Spaß gemacht. Ich finde, so ein Notizbüchlein darf gern wieder beim nächsten Stammtisch-Stammtisch dabei sein! Du hast das Buch doch mitgenommen, oder? Was war da noch so drin?

L:
Jetzt probiere ich elegant, und vor allem intelligent, davon abzulenken, dass ich das Buch nicht mitgenommen oder abfotografiert habe 🙂 Oli und Martin haben das Buch aber wohlbeherzt an sich genommen und das ist doch ein schöner Aufhänger, sie bei den nächsten Typostammtischen wieder zu sehen.

Besonders gut kann ich mich an die Doppelseite mit den Tierbuchstaben erinnern, bei denen äußerst niedliche, aber auch bedrohlich-einschüchternde Wesen entstanden, die gleichzeitig als ausgereifte Initialbuchstabenideen herhalten könnten. Sinas M mit Augen fand ich sehr schön. Und ich habe nebenher mitbekommen, dass David sogar sein eigenes Blackbook mitgebracht hatte. Seiten über Seiten gefüllt mit Buchstaben, wow. Also ich bin dafür, dass wir die Idee mit dem Notizbuch zum Typostammtisch fortführen.

Was für ein schöner Rundgang! Ich hoffe, dass alle aus unserer Gruppe etwas für sich mitnehmen konnten. Auch, dass es neue Fragen angestoßen hat. Oder, dass es einfach die Spielfreude entfacht hat, durch Martins und Olis (Sprüh-) Fingerspitzengefühl in der Vermittlung straßenschriftlicher Inhalte. Nur noch zwei Dinge, die ich teilen möchte, da sie mich fasziniert haben: Erstens, dass die hohen Dosenpreise und die derzeitige Inflation mehr und mehr Graffitimenschen zum Umlenken auf Streichfarbe und Rolle bewegen. Und zweitens, dass es Writer gibt, die im Sommer mit der Gartenschere herumlaufen und den Büschen, die über ihre Bilder wachsen (und diese somit verdecken) einen Pony schneiden.

Danke an unsere Guides für die Insights und den schönen Spaziergang. Danke auch an unsere Gruppe und alle zum Biergartenstammtisch Dazugestoßenen: Toll, dass ihr da wart! Und Anja, haben wir noch etwas vergessen, oder magst du noch etwas hinzufügen?

Die (nicht ganz komplette) Gruppe, die Guides und der Prater

Auf einen gelungenen Type Walk!

A:
Du hast alles gesagt (hihi). Ich muss nur noch über die Formulierung „Fingerspitzengefühl in der Vermittlung straßenschriftlicher Inhalte“ lachen. Das wäre auch eine 1A-Überschrift für eine Verordnung oder sowas! Ich möchte noch eine Anekdote loswerden, die mir einer der beiden später im Prater erzählte: Er sagte, sich umschauend, dass er hier schon mal nachts gewesen sei. Er dachte damals allerdings, dies sei ein verwaistes Schwimmbad (wegen der Türme, die dort zur Bühnenbeleuchtung stehen). Schon lustig, diese Nicht-Orte in der Stadt – sogar belebte Biergärten können sich bei Nacht in solche verwandeln.

Hier noch mehr Fotos, die wir oben nicht untergebracht haben … Continue reading „Nachgespräch 96. Typostammtisch: Street Type Walk mit Oli und Martin“