Nachbericht 103. Typostammtisch: Ulrike Rausch & Lea Giesecke

Ein Abend, zwei Masterarbeiten, so verschieden und doch dicht verflochten. 

Die beiden Absolventinnen Ulrike Rausch und Lea Giesecke sind angespornt von Neugier, Entdeckerinnengeist, vom Drang haptisch gestaltend etwas zu erhalten und es gleichzeitig zu hinterfragen, es zukunftsfähig zu machen. Die Themen ihrer Masterarbeiten lauten Maschinen schreiben (Ulrike) und BuchBauKasten (Lea). In Ulrikes Vortrag geht es um teilweise selbstgebaute Maschinen, die Handschriften reproduzieren; um Gamification und die Frage, was eigentlich authentisch ist. Lea lässt uns eintauchen in die Welt der Buchbinderei. Wir erfahren vom aussterbenden Handwerk und neuen Ansätzen, Wissen an kommende Gestalterinnengenerationen weiterzugeben.

Dieser Artikel ist, ebenso wie Ulrikes Masterarbeit und Vortrag, im generischen Femininum verfasst. Jawohl!

Speakerinnenimbiss diesmal: Sushi
„Was die Handschrift verrät“ – Ja, was denn eigentlich?
Das Publikum nimmt Platz.
Los geht’s! TStT-Moderator Lukas Horn begrüßt alle und gibt weiter an …
… Ulrike Rausch. Sie zeigt uns wie „Maschinen schreiben“.

Der Blick zurück

Ulrikes erste Reaktion, als Udk-Professor David Skopec ihr einen Masterabschluss anriet, um selbst Masterstudentinnen unterrichten zu können: „Bestimmt nicht“. Selbstredend, ein Masterstudium bedeutet viel Arbeit, und wer wie Ulrike jahrelang mit Schriftgestaltung Brötchen verdient, auf internationalen Bühnen gestanden und auch bereits publiziert hat, schreckt sicherlich erst einmal zurück vor der Umstellung, die erneutes Studieren bedeutet. Andererseits: Warum eigentlich nicht? Und schon toll, so „Bildung for free als erwachsener Mensch“, wie Ulrike es formuliert. Nun steht sie also als Master of Arts vor uns.

Lea Giesecke stellt ihren BuchBauKasten vor.

Lea, ebenfalls seit letztem Jahr Master of Arts, absolvierte ihr Masterstudium direkt im Anschluss an den Bachelorabschluss an der FH Potsdam. Während ihres Studiums arbeitete sie in der Buchbindewerkstatt der Hochschule, wo sie mit Fragen zu den schier endlosen Möglichkeiten von Faltungen, Bindungen und Produktion konsultiert wurde. Oft kamen Studentinnen am Ende des Semesters allerdings mit fertig gestalteten Projekten, bei denen die Buchbindetechnik nicht mitgedacht wurde und wenig nachträgliche Änderungen möglich waren. Lea beobachtete also die Tendenz, Inhalt und Form nicht bis zur Produktion zu konzipieren. Um das zu ändern, wollte sie Studentinnen ein simples und doch ungemein tiefgreifendes Werk an die Hand geben. Einen dicken Wälzer womöglich? Nein, ein Plakat mit dazugehörigen Legekarten.

Leas Idee entwickelte sich in der Buchbindewerkstatt der FH Potsdam.

Theorie

In ihrem theoretischen Teil zeigt Ulrike anhand von ausgewählten schreibenden Maschinen (Telautograph, Longpen, Autopen), wie sich die Sicht auf Handschrift in der Geschichte verändert hat. So wurde der Telautograph bei seiner Vorstellung 1893 verblüfft bis skeptisch aufgenommen: Wie konnte es sein, dass eine nahezu originalgetreue Abschrift eines handgeschriebenen Textes in kilometerweiter Entfernung von einer Maschine reproduziert wird? Auch der Longpen, ein digitaler Unterschriftenautomat, erfunden 2004 von der Autorin Margaret Atwood, wirft Fragen zur Nähe zwischen Fan und Autorin bei einer Remote-Signierstunde auf (… und das vor Corona!). Oder der Autopen, jener Unterschriftenautomat, der seit 1937 zum Tagesgeschäft beispielweise der US-amerikanischen Politik gehört und nach wie vor für Signaturen von höchster Stelle genutzt wird. Gebt mal „Patriot Act“ in der Suchmaschine eurer Wahl ein: Dieses Gesetz wurde via Autopen unterschrieben, in Auftrag gegeben von Barack Obama. Ist solch eine Praxis eigentlich rechtssicher? 

1893 entstand diese verblüffend ähnliche Abschrift (rechte Seite) durch den Telautograph.
Über das Authetizitätsversprechen von Autogrammen
Künstliche Intelligenzen leiten aus wenigen vorhanden Buchstaben (linke Spalte) neue Buchstaben ab. Da kann man nur sagen: Oha.

Bis hierhin haben wir schon viel über Authentizität gelernt. Im Weiteren geht es auch um täuschend echte Handschrift-Fonts, Anbieterinnen von pseudo-authentischen Massen-Mailings und um künstliche Intelligenz, die anhand von einzelnen Worten ganze Handschriften ableitet. Und da sind wir noch nicht beim praktischen Teil!

Zunächst nämlich Leas theoretischer Teil. Dieser beschäftigt sich mit der haptischen Erfahrbarkeit von Büchern. Lea ist interessiert an allem, was das Medium Buch auf dieser Ebene ausreizt: Format, Bindung, Material, Details, Veredelungen, Faltungen. In diesem kreativ-handwerklichen Umfeld entwickelt sich total folgerichtig ihr BuchBauKasten (BBK), auf dessen Umsetzung sie den Fokus ihres Vortrags legt.

Geformt durch Neugier, Erklärungsbedarf und Interesse am besonderen Buch.

Praxis

Entstanden ist ein umfangreiches und intelligent gefaltetes Plakat, das anhand von neutralen Illustrationen verschiedene Möglichkeiten von Bindung, Einband, Falzung und Ausstattung aufzeigt. Sie hätte es nie verstanden, dass die inititale Unterscheidung Broschur/Hardcover bereits zu solch großen Einschränkungen in der Auswahl der Bindung führen soll, sagt Lea. Schließlich seien auch andere Kombinationen vorstellbar als Broschur mit Klebebindung und Hardcover mit Fadenheftung. Ziel war es also, kein vorgefertigtes Bild zu zeichnen, sondern qua Gestaltung des Plakates schon möglichst viele Kombinationen offen zu halten und zum Ausprobieren anzuregen.

Überhaupt, ausprobieren: Auch die Betreuerinnen der Masterarbeit seien skeptisch gewesen, ob dieser unkonventionelle Ansatz funktioniert. Kurzerhand leitete Lea also selbst eine Projektwoche an der FH Potsdam, in der Studentinnen alle möglichen per Zufall ausgelosten Kombinationen der vier Kategorien in Buchprojekte übersetzten. Und siehe da: Die meisten Konstellationen waren umsetzbar, wenn man Spielraum zur Interpretation der Techniken lässt, und die Erwartungen wurden mit außergewöhnlichen Ergebnissen übertroffen. 

Prima Publikation. Prima gefaltet. Das Plakat gibt’s auf Deutsch und Englisch, gefaltet und gerollt. Das dazugehörige Set der Legekarten ist in Arbeit und soll eine freiere Herangehensweise ans Büchermachen unterstützen.
Lukas Horn unterstützt beim Vorstellen des Plakats.

Leas Projekt betont den spielerischen Umgang mit Produktion. Es ist offen für eure Projekte. Es möchte gefüllt werden, schon zu Beginn des Denkprozesses zurate gezogen und zum Leben erweckt werden. Die perspektivischen Illustrationen, die nur das für die jeweilige Rubrik Wesentliche zeigen, und die insgesamt sehr zurückgenommene, schwarz-weiße Gestaltung sprechen für sich. Begleitend zum Projekt gibt es eine Webseite (buchbaukasten.club).

Bis sie einen angemessenen Illustrationsstil herausgearbeitet habe, der im Detail unterscheidbar aber im Allgemeinen neutral genug sei, habe es eine ganze Weile gedauert, so Lea.

Ulrikes praktischer Teil könnte auch einem Grundstudium Elektrotechnik entspringen: Sie knippert Kontakte, vertüdelt Kabel, schraubt und lötet. Kein Servomotor und kein DVD-Laufwerk ist vor ihr sicher – bis die kleinen Racker das schreiben, was Ulrike will. Oder bis zumindest die Grenze des Machbaren erreicht ist. Eine Frage aus dem Publikum, ob ihre selbstgebauten Schreibroboter Namen hätten, verneint Ulrike. Die Vermutung ist allerdings sehr verständlich: frau tendiert dazu, diese Maschinen zu vermenschlichen. Sie wachsen ans Herz, schreiben sie doch menschliche Worte mit so abstrus-niedlichen Geräuschen. Bei so viel philophischer Metaebene (von Menschen gebaute schreibende Maschinen schreiben wie schreibende Menschen, die das Geschriebene digitalisieren um dann mit Maschinen zu schreiben wie …) hört es sich doch leichter dem Roboter beim Quietschen zu. HA HA HA, Nö Nö Nö.

Ein Roboterarm ohne Name schreibt „HAHAHA“ auf eine Rolle …
… und ein anderes Maschinchen „Nö Nö Nö“ auf Post-its.
Von Servomotoren, DVD-Laufwerken und vielen, vielen Kabeln.
Das Auto als Stift; Gamification I
und rückwärts digitalisiert; Gamification II.

Es gäbe noch so viel nachzuerzählen. Aber ihr sollt ja auch Lust haben, nochmal an anderer Stelle von den beiden Ladies und ihren Projekten zu hören. Wie also geht’s weiter mit den Abschlussarbeiten?

Der Blick nach vorn

Nachdem der BuchBaukasten Anfang des Jahres beim kleinen Stuttgarter Verlag Prima Publikationen veröffentlicht wurde, ist Lea in diesem Jahr bei vielen Gelegenheiten anzutreffen: Auf diversen Messen, bei Workshops im EinBuch.haus in Berlin und auch ab und zu auf dem Buchbindestammtisch. Unser Herz hüpft. Ja, Buchbindestammtisch! Lea erzählt davon, wie dieses Handwerk zunehmend ausstirbt und wie offen sie mit ihren frischen Ideen beim Stammtisch empfangen wurde. Aus dem Publikum gibt es noch Anregungen zu einem interaktiven Herstellerinnenverzeichnis, das Werkstätten und Betriebe gegliedert nach Umsetzungsmöglichkeiten aufzeigt. Denn, auch das sei nicht immer einfach, bestätigt Lea: Leute zu finden, die die Ideen am Ende umsetzen. 

Crowdfunding: check. Verlag: check. What’s next?
Unter anderem auf diesen Messen ist Lea dieses Jahr anzutreffen.
Oder man besucht einen ihrer Workshops, z.B. im EinBuch.haus.

Letzte Publikumsfrage, diesmal an Ulrike: Erwartet uns im Hause LiebeFonts ein neues Label mit maschinengeschriebenen Handschriftenfonts? Nee, entgegenet Ulrike. Lieber in die Schublade damit und dort wertvoll werden lassen. The present is already past.

Wir meinen: Zumindest den Vortrag sollten unbedingt mehr Menschen hören dürfen.

Danke euch beiden!