Nachbericht 105. Typostammtisch: Hendrik Weber & Aljoscha Höhborn

Vorbei an neonroten Tape-Wegweisern durch die Hinterhöfe, die Treppen vierer Stockwerke hinauf, durch den dunklen Schallschutzverkleidungstunnel und hinein in den Urlaub – so zumindest fühlte sich der Abend für uns als Typostammtisch-Team an. Denn die gastgebende Agentur (auch ein Team, KMS TEAM nämlich) hat sich mächtig ins Zeug gelegt, um den ca. 80 Anwesenden trotz angesagtem Gewitter einen tollen Abend zu bereiten. Danke den beiden Sprechern, sowie Wolfram, Anna, Annette, Patrick und allen Beteiligten!

Viel Engagement für einen tollen Abend: Danke, KMS TEAM!

Nach einigen Soundproblemchen (wär ja auch sonst langweilig) erzählt uns Hendrik Weber, Type Director bei KMS TEAM, von Minimalismus in der Corporate Typografie. Hendrik erläutert die Konventionen, die Schrift ausmachen und von anderen Design-Disziplinen unterscheiden. Semantik also: Ein a sei schließlich kein Schuh und keine Karotte. Seine These: Je komplexer die Marke, desto einfacher muss die Corporate-Schrift sein. Bei Schrift im Markenkontext gehe es darum, Raum zu schaffen, sodass andere Disziplinen zur Geltung kommen können. 

Schrift als DNA der Marke.

Noch eine These: Jede Schrift hat ihre Berechtigung verdient. Grundlage für diese Behauptung liefert das englische Wort „typefaces“. Schließlich gibt es 8 Milliarden Menschen auf dem Planeten, deren Gesichter sehen sich trotz großer Unterschiede grundsätzlich auch recht ähnlich. (Diese Herleitung unbedingt merken, wenn man mal wieder Opi erklärt, was man tagtäglich tut). 

Wie läuft ein Branding-Projekt praktisch ab? Am Anfang stehe das Mapping, sagt Hendrik. Übersetzt heißt das: Wo wollen wir mit der Marke hin? Hendrik erläutert Schaubilder, die Stilrichtungen und Spezifikationen verorten: Sans und Serifs, mit Kontrast und ohne, statisch und dynamisch, konstruiert und humanistisch. Solch eine Verortung erkläre auch die Beliebtheit der Helvetica: Diese stehe zwischen vielen Polen und sei damit „in der Mitte“.

Im Folgenden zeigt Hendrik Corporate Type Projekte, die er und sein Team betreut haben (zum Stichwort Team folgendes Zitat ebenfalls merken: „Vom ME zum WE sind es manchmal nur 180° und ein bisschen Gezuppel“). Besagte Projekte sind: J!NS, BMW Motorrad, ATRUVIA und Porsche.

Wie viel Dynamik darf’s sein?

Brandschriften bräuchten einen einfachen kommunikativen Anker, so Hendrik, zu dem man immer wieder zurückkommen kann. Minimalistisch eben. Und nachhaltig, damit die Markenschrift nicht alle 2 Jahre neu gemacht werden muss. Die kommunikativen Anker der oben genannten Projekte in dieser Reihenfolge: der weltweite durchschnittliche Abstand zwischen beiden Augen, kurvige Straßen, Verbindungen und Bodenhaftung. Da soll nochmal jemand sagen, Schriftgestalter·innen beschäftigten sich nur mit Buchstaben …

Lecker Pause.

Kurze Pause, Snacks, kühle Getränke, und weiter geht’s mit dem zweiten Sprecher des Abends: Aljoscha Höhborn. Wird auch Zeit: Einige drängeln schon, weil sie vor dem großen Gewitter nach Hause wollen („Schlau“, kann da die Autorin nur seufzen, die zu späterer Stunde nach 200 Metern Weg komplett durchgeweicht war). Aber zurück zu Aljoscha! 

Als erstes sehen wir ein Show-Reel, denn dieses, mit gesammelten Arbeiten von 2020–2022, sei die Visitenkarte des Motion Designers. Wobei sich Aljoscha nicht als Motion Designer bezeichnet. Er spricht lieber von „Design & Motion“, denn sein Schwerpunkt ist es, beide Disziplinen gleichwertig und in Personalunion zu vereinen. Das Handwerkszeug für Motion sei das selbe wie beim Grafikdesign: Farben, Formen, Schrift. Aber die Dimension der Bewegung eröffne neue Möglichkeiten der Gestaltung. 

Alle angeschnallt?

Zur Geltung kommen diese zusätzlichen Gestaltungsmöglichkeiten im ersten Projekt, das Aljoscha uns zeigt. Der Film zum 20-jährigen Geburtstag des Mercedes Benz PreSafe Sicherheitssystems ist so schnell geschnitten, dass man die Schrift kaum lesen kann. So schnell nämlich, wie das Sicherheitssystem reagiert. Das Endergebnis ist auf jeden Fall eindrucksvoll. Aber wie entsteht so ein vermeintlich kurzer Film? Aljoscha erklärt, dass er nach dem Briefing unmittelbar anfange, Illustrator-Skizzen anzulegen und erste Ideen festzuhalten. In den Styleframes wird dann anhand von Schlüsselszenen gemeinsam mit den Kunden ein Look festgelegt. In der Produktion wird schließlich jede Szene des Films durchgestaltet und zuletzt aus dem Statischen heraus animiert. 

Der Pfeil markiert Aljoschas Einstieg in das Projekt.

Als Bildmaterial für dieses Projekt nutzten er und sein Kompagnon 3D-Modelle aus den letzten 20 Jahren. In diesem Feld ist in kurzer Zeit viel passiert, sodass die Anmutung des Bildmaterials sehr unterschiedlich ausfällt. Hinzu kommen grafische Elemente wie Tachometer, Höhenlinien oder anderes generisches Material. Und natürlich die Corporate-Schrift. Gleich zu Anfang zu beachten ist, dass das Material in verschiedenen Medien und Formaten funktionieren muss (quadratisch, Portrait, Landscape). So hätten sie sich entschieden, die Hauptinformation in der Bildmitte stattfinden zu lassen. In diesem Ausmaß neu war Aljoscha bei diesem Projekt, dass auch die Rechtsabteilung des Konzerns mit der Gestaltung befasst ist: Anfangs war im Clip von „Milli-seconds“ die Rede. Da dies als Einheit aber zu konkret ist und möglicherweise widerlegbare Behauptungen hervorruft, einigte man sich auf den vageren Begriff „Split-seconds“.

Das zweite Projekt, das Aljoscha vorstellt, ist ein Film für die York-Kinogruppe. Die eigene Arbeit im Kino zu sehen, sei etwas ganz besonderes. Auch wegen des Formats, denn Cinemascope sei nicht alltäglich. Auch bei diesem Projekt gab es recht wenige Vorgaben: Die Hausschriften GT Alpina und Messina Sans (Luzi Type) sollten Raum bekommen. Ein Traum-Briefing eigentlich, „wie eine Aufgabe aus dem Studium, in der man mit Schrift Gefühle vermitteln soll“, wie Aljoscha sich erinnert. Und so sehen wir die Schriften auf Nickelodeon-artigem Orange, mit blinkendem Hollywood-Effekt und regenbogenmäßig animiert. Macht gleich Lust aufs Kino! 

„Wie eine Aufgabe aus dem Studium“, findet Aljoscha.

Warum er diese beiden Filme herausgesucht hat? Herzensprojekte offensichtlich, und welche, die ihm großen Freiraum ließen, einen spielerischen Umgang mit Schrift und Animation auszuleben. Denn „der Alltag sieht nicht so fancy aus“, erzählt Aljoscha. Oft werden Motion Designer hinzugezogen, wenn schon alles andere fertig ist. Je größer die Projekte, desto kleiner die Aufgaben. Oft gibt es keine Motion Guidelines, was die Arbeit zusätzlich verkompliziert. Aljoschas Appell: Motion Guidelines sind als Bestandteil des Design Manuals mittlerweile für jedes Unternehmen zu empfehlen. Zu erstellen sind sie durch … Motion Designer.

Aus dem Publikum gibt es Nachfragen: Was kommt zuerst, der Sound oder das Bild? Zuerst das Bild, dann der Sound, weswegen oft ein separater Sound Designer hinzugezogen wird, da vorhandene Werke nicht zu den Schnitten passen.

Q+A nach dem Talk.

Weiter geht’s: Wie stehst du zu Variable Fonts aus Sicht der Animation? Aljoscha fände VF teilweise eine große Erleichterung (nachträgliche Textänderungen sind das Leid des Motion Designers), es hapere aber leider an der Implementierung in die Bewegtbild-Tools (hier kommt später noch Bewegung in die Sache). Folglich stellt er Morphs zwischen Fonts selbst her. Das entbehrt natürlich nicht einer gewissen Ironie: Type Designer stellen in mühevoller Kleinarbeit dynamische Schriften her und Motion Designer erstellen ihre Morphs dann doch aus statischen Fonts – ebenfalls in mühevoller Kleinarbeit. Später meldet sich jemand aus dem Publikum, der ein After-Effects-Plugin für VF geschrieben hat. Der weitere Ausgang ist ungewiss aber es klingt nach einer sinnvollen Symbiose. Mission für den Abend accomplished, der Regen kann kommen. Kommter auch.

Danke an Hendrik & Team, Aljoscha und alle Interessierten für den tollen Abend!