Nachbericht 82. Typostammtisch: TypeCrit

Viele Gäste an diesem Abend kommen sehr früh, stellt man beim Blick auf die Uhr überrascht fest. Es ist kurz vor 19 Uhr und der Raum wird schon seit einiger Zeit immer voller. Das mag von großem Interesse, günstiger Wegeplanung nach Feierabend oder auch von einem Hauch deutscher Handtuchmentalität zeugen (die Plätze im Max & Moritz sind ja bekanntlich begrenzt)…

Aber alles der Reihe nach. Zunächst: die Location! Wir befinden uns am einstigen Typostammtischstammstandort. Einige Besucher fühlen sich direkt heimisch, andere sind zum ersten Mal da. Des Weiteren interessant: die Mischung! Jung und Alt, Profi und Studentin, Fachfremde und Typenerd – ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Ungefähr 60 Menschen sind da und freuen sich auf das Thema des Abends: TypeCrit.

Begrüßung und Vorstellung

Keine Crit ohne Critics. Nach einer kurzen Begrüßung stellen sich der Reihe nach vor: Verena Gerlach, Typostammtischstammgast und sowohl ehemalige Studentin als auch Dozentin in Weißensee, hat nach eigener Aussage mehr Lust auf spannende, modulare Entwürfe als auf geometrische Sans. Ralph du Carrois, seines Zeichens Spezialist für eben diese geometrischen Sans: „je langweiliger, desto besser“, wie er es augenzwinkernd formuliert. Es folgen Martina Flor, bekannte und geschätzte Lettering-Expertin und Buchautorin, sowie Sol Matas, sonnige Typostammtischmitorganisatorin, die lange in Buenos Aires unterrichtet hat und an diesem Abend schon auf dem Sprung zum nächsten Typostammtisch in Mumbai ist. Martin Huber und Jürgen Wenzel von Supertype stellen sich kurzweilig vor und haben reichlich Belohnung in Form von Süßigkeiten dabei. Den Abschluss macht Luc(as) de Groot, Typostammtisch- und Schriftgestaltungsinstanz mit Lehrauftrag an der FH Potsdam und vorher in Weißensee (wo er Verena Gerlach beibrachte, wie man Entwürfe konstruktiv kritisiert, wie sie anmerkt). Continue reading „Nachbericht 82. Typostammtisch: TypeCrit“

Nachbericht 79. Typostammtisch: 1E9E, ein Jahr danach

Am 25.10. trafen sich Π(π)×Daumen 100 Buchstabenbegeisterte – nicht nur Typografen und Schriftgestalter, sondern auch Linguistinnen, Lehrer, Studentinnen und Herausgeber – an unserem bevorzugten Veranstaltungsort in Schöneberg zum Thema 1E9E: die Versalform des scharfen S.

Die Atmosphäre macht Vorfreude auf das Programm; bereits die Wegweiser durch den Hof kündigen von Begeisterung für das Thema. Drinnen angekommen, ist auf Ausstellungswänden das Wort „STRAẞE“ in 270 unterschiedlichen Schriften gesetzt. Auf den Tischen liegen Kekse in Versaleszettform.

Bereits die Wegweiser kündigen von Begeisterung für das Thema. / Quelle: sofern nicht anders genannt, stammen alle Bilder von Nadya Kuzmina. Vielen Dank!
Benedikt und Dan treffen letzte Vorbereitungen zur Ausstellung.
Thematisches Gebäck von Jens und Dan. Danke noch mal!

Nach einem warmen Willkommen und beseelter Einleitung von unserer Sonja spricht als erste Nadine Roßa, bekannt durch Design made in Germany und ihre Sketchnotes. Bedingt durch ihren Nachnamen ist Nadine persönlich betroffen. Bereits in ihrer Diplomarbeit beschäftigte sie sich umfassend mit dem Buchstaben ß. Entstanden ist ein Buch namens Eine scharfe Type – ein Erklärbuch zum Thema, das bereits Skizzen zur Versalform beinhaltet. Ihr zweites Buch dazu, Viele scharfe Worte, enthält alle deutschen Wörter mit scharfem S.

In ihrem Vortrag weiß Nadine von ß-Pannen in offiziellen Dokumenten zu erzählen, wo Namen oft in Versalien geschrieben werden. Auf die vermeintliche Frage „Wer braucht ein Versaleszett?“ hin kann sie also nur feststellen: „Ich brauche das!“ Weiterhin moniert sie, dass das Versaleszett zwar seit 10 Jahren offiziell sei, die Verwendung sich aber bis heute nicht gerade unkompliziert gestalte – so könne man das Zeichen auf Twitter zwar eingegeben, es werde aber auf dem Mac nicht angezeigt. („Danke, Apple!“, wie Lucas de Groot konstatiert.) Nadine zeigt uns viele kreative Lösungen zur Umschiffung dieses Problems, zum Beispiel ein B mit Unterlänge oder die Verwendung des Kleinbuchstabens ß zwischen Versalien.

Ein EXTRAWICHTIGER Buchstabe

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Nachbericht 78. Typostammtisch: Golnar Kat Rahmani über Quadratkufi

Am 27. September durften wir uns wieder im Sonnenstudio treffen und wurden mit einem überraschenden Vortrag von Golnar Kat Rahmani verwöhnt. Im Iran geboren, an der Teheran Universität und an der Kunsthochschule Weißensee studiert, hat uns Golnar mit einer großen Sammlung wunderschöner Bilder in die Welt und Geschichte des Quadratkufi eingeführt. Kufi ist eine sehr alte Schreibweise, ursprünglich für religiöse Texte verwendet, die sich in mehreren Formen weiterentwickelt hat; viele moderne arabische Schriften haben ihre Wurzeln in Kufi.

Quadratkufi ist eine Variante, die mit geraden Linien und einheitlichen Strichstärken auskommt, und über den ganzen Orient bis in Transoxanien und Indien – unter vielen Namen bekannt – Einsatz findet, am beeindruckendsten in der Architektur. Für uns kaum vorstellbar, ist diese Schrift in und an den Bauten ein wesentlicher Bestandteil der Kultur. Gigantische Wände und Decken werden virtuos mit Texten bestückt, mit kunstvollen, komplexen Verschachtelungen, Texte innerhalb anderer Texte, und das schon seit vielen Jahrhunderten. Es scheint, als ob in der Religion von Allah und Mohammed alle wichtigen Orte auf Typografie aufgebaut sind. Da kann die westliche Architektur mit einer Handvoll plattgetretener Grabsteine und schlecht spationierter Inschriften nicht im Geringsten mithalten. Als die Barbarenvorfahren in Europa noch in der Schweinejagd steckten, gab es in den Islamregionen schon hochentwickelte Mathematik und Fliesenkunst, was für Quadratkufi wie gemacht zu sein scheint und dem Zahn der Zeit widerstanden hat.

Lesehilfe für Quadratkufi

Im arabischen Schriftsystem gibt es Punkte, die Unterschiede im Klang der Konsonanten klarmachen („be“ versus „pe“), und Vokale werden einfach weggelassen. Nur bei religiösen Texten und Kinderbüchern werden Vokalisationszeichen hinzugefügt. Bei Quadratkufi jedoch gibt es weder Punkte noch Vokalisationszeichen; das Lesen der Texte ist dadurch entsprechend schwierig. Zudem wird auch vertikal und auf dem Kopf geschrieben und gibt es eine enorme Freiheit, wie die Buchstaben miteinander verbunden werden. Und dann ändern die Zeichen auch noch ihre Form, je nachdem ob sie alleine, am Anfang, am Ende oder mitten im Wort stehen. Auch wenn man die Buchstaben „mhmd“ gelernt hat, und weiß, dass damit Mohammed gemeint ist, gibt es unglaublich viele Möglichkeiten, wie sie miteinander verbunden und verschachtelt werden können.

Von rechts nach links: m h m d

Auch bei zeitgenössischen Kalligrafen ist Quadratkufi beliebt: Der syrische Kalligraf Mouneer Al Sharaani, im Frühling noch mit Ausstellung und Workshop in Berlin gewesen, benutzt sie gern in seinen Kunstwerken.

Ein Highlight bei Golnars Vortrag war ihr selbstgestalteter Pullover. Auf den ersten Blick ein schönes grafisches Muster in Schwarzweiß, versteckt sich darin die Entfernung (Kilometerangaben) von Berlin zu genannten Kulturorten im Orient, wie Damaskus, natürlich in Quadratkufi. Es gab einige Fragen aus dem Publikum, wann die Kollektion in Serie geht! Wir drücken die Daumen und Golnar gibt uns Bescheid; eigentlich war es als Kunstprojekt gedacht, nicht Mode.

Dass es hier um ein Weltthema ging wurde betont durch die große Menge unterschiedlicher Nationalitäten, die sich in Sols Studio versammelt hatten. Mit Getränken, Suppe, Häppchen und einer Apfelernte wurde noch lange nachdiskutiert, die Stimmung war großartig. Wir hoffen, dass Golnar an dem Thema dranbleibt, und ihre Recherche und Fotos irgendwann publiziert werden. Danke!

Der Quadratkufipulli

Nachbericht 76. Typostammtisch: Kurzpräsentationen im Grünen

Es war ein wunderschöner Abend. An dieser Stelle gleich nochmal ein Riesendankeschön unseren Gastgeberinnen Heike Nehl und Si­byl­le Schlaich! Der Hinterhof der Moniteurs in der Ackerstraße entpuppte sich als grüne Oase, dicht bewachsen, frisch beplankt von Alex Branczyk, der mit seinen Schwesterfirmen xplicit und drucken3000 im gleichen Hof sitzt und kurzerhand noch ein paar passgenaue Holzbänke gebaut hatte. Es war dann aber auch jeder Platz besetzt. Und das gab es zu sehen, zu hören, zu bestaunen:

Beatriz Rebbig, Berit Kaiser von Rohden (Moniteurs) – „Apfelgriebs, Behavior, Co-creation: Das ABC der Piktogramme“
Beatriz Rebbig, Berit Kaiser von Rohden (Moniteurs): „Apfelgriebs, Behavior, Co-creation: Das ABC der Piktogramme“Zum Auftakt gaben uns Beatriz und Berit, zwei Mitarbeiterinnen der Moniteurs, einen Überblick über eines der Spezialgebiete der Agentur: Piktogramme, Icons, Bildsymbole, wie sie in Wegeleitsystemen zum Einsatz kommen und passgenau für bestimmte Orte, Themen und Auftraggeber entwickelt werden. An ihnen und ihrer konzeptionsstarken Arbeit wie dem Terminal-Orientierungssystem kann es definitiv nicht gelegen haben, dass der Weg zum neuen Flughafen für Berlin so beschwerlich ist.

Dan Reynolds – „Die Norddeutsche Schriftgießerei“
Dan Reynolds: „Die Norddeutsche Schriftgießerei“Dan ist ein wandelndes Schriftgießereienlexikon, besser gesagt: Lexikon, Lageplan, Geschichtsbuch, Gestalter und Forscher in einem. Was er an Wissen und Detailfreude an den Tag legt, macht ihm so schnell keiner nach. Die Anwesenden durften staunend feststellen, dass sie sich mit ihren heutigen Firmen – ob vor Ort in Mitte oder im fernen Schöneberg gelegen, so Dans anlassbezogene Forschungsschwerpunkte – in den Epizentren der Schriftgießerien auch vorheriger Jahrhunderte befinden.

Jenna Gesse – „Form und Inhalt sind jetzt Freunde“
Jenna Gesse: „Form und Inhalt sind jetzt Freunde“Jenna ist Dozentin, Redakteurin, Gestalterin durch und durch. Im besten Sinn Generalistin, sind bei ihr Schrift und Sprache, Form und Inhalt, Sinn und Witz Freunde. Wir staunen über Jennas Einfallsreichtum und die ruhige Art, mit der sie ziemlich beste Gestaltungsideen präsentiert: etwa ihre minimalistisch visualisierte Autobahn, mit Begleitsound, Anklänge konkreter Poesie. Mich begeistert, wie leicht und vielschichtig die Autorin-Designerin von Leerzeichen für Applaus zeigt, dass Text gestaltete Sprache ist.

Daria Petrova, Inga Plönnigs – „Zukunftsschriften“
Daria Petrova, Inga Plönnigs: „Zukunftsschriften“Daria und Inga sind mit ihrem Vortrag über Future Fonts die Überraschungsgäste des Abends. Weil sie nicht nur ihre beiden sehr eigenwilligen, konzeptionsstarken Schriften Messer und Zangezi vorstellen und Einblicke in den Status quo ihrer persönlichen Gestaltungsprozesse geben, sondern das Prinzip der neuen Schriftplattform erklären: Type Designer können „unfertige“ Schriften einstellen und bereits zum Kauf anbieten, aber auch Feedback, Lob und Kritik erfragen und sich so im weiteren Ausbau ihrer Schrift begleiten lassen, von Nutzern, Fans und Kolleginnen.

Benedikt Bramböck – „Kategorie: Lückenhaft“
Benedikt Bramböck: „Kategorie: Lückenhaft“Benedikt möchte Wikipedia besser machen. Und zwar in einem entscheidenen, nämlich unserem Feld: Schriftgestalterinnen und Schriftfirmen sind im globalen Lexikon nur unzureichend vertreten und beschrieben, to say the least. Es fehlt an allen Ecken und Enden. Es fehlen vor allem Mitschreiberinnen, die das Ganze als Redaktionsgruppe in die Hand nehmen würden – so Benedikts Idee und Aufruf, eine Stimmung hoffnungsfroh-entschlossenen Ärmelhochkrempelns verbreitend. Gemeinsam sollte der Missstand zügig in den Griff(el) zu bekommen sein. Meldet euch!

Elena Albertoni – „(Not) always hand paint!“
Elena Albertoni: „(Not) always hand paint!“Elena widmet ihre Energie handgemachten Hausinschriften. Die versierte Schriftgestalterin war Mitarbeiterin bei LucasFonts und gründete 2005 Anatoletype. Jetzt belebt sie eine alte Profession neu, führt sie in die heutige Zeit und fügt ihr neue Qualitäten hinzu. Ihr Angebot umfasst die direkte Dienstleistung vor Ort, das Gestalten einer Ladenfassade nach den Wünschen der Besitzer, Beratung und direkte Anbringung, sprich, professionelle Bemalung der Hauswand. Eine von Elenas Spezialitäten ist das Arbeiten mit Blattgold – um zu untermauern, dass ihr Handwerk in Berlin goldenen Boden (und fundierte Tradition) hat? Wir sehen sie vor unserem geistigen Auge mit Farbpalette und Handkarren durch die Straßen ziehen und alles verschönern.

Christine Wenning – „Arbeite hart und sei nett zu den Menschen“
Christine Wenning: „Arbeite hart und sei nett zu den Menschen“Christines Vortrag ist einer der spannendsten des Abends. Sie berichtet gar nicht über ihre Arbeit direkt, sondern wie sie heute arbeitet. Nach Stationen in Hamburg, Berlin (Edenspiekermann, TYPO Berlin) und Bielefeld arbeitet sie heute in einer Agentur, deren Chef zu den Innovatoren der Branche, wenn nicht der gesamten Arbeitswelt gehört: Lasse Rheingans hat in seiner Agentur (nomen est omen) Digital Enabler die 25-Stunden-Woche bzw. den „5-Stunden-Tag im Selbstversuch“ eingeführt und sorgt damit für Furore. Es klappt uneingeschränkt. Das ganze Team arbeitet fünf Stunden am Tag, bei voller Bezahlung und gleichem Urlaub, und alle sind begeistert. Auch die Kunden. Wie das in der Praxis funktioniert und effizient ist, macht Christine fein anschaulich.

Charlotte Rohde – „Type Club Düsseldorf“
Charlotte Rohde: „Type Club Düsseldorf“Charlotte sieht ihren Type Club als „Plattform für Schriftgestaltung und -forschung“, insbesondere „für Schriftkonzepte von Studenten der Hochschule Düsseldorf“. Sie präsentiert Schriften und deren Gestalterinnen, Aktionen und Ausstellungen. Eine Schriftskizzensammlung, Vorträge und Interviews gehören dazu, ebenso der Austausch etwa mit Studierenden der UdK Berlin (Elias Hanzer) und Kolleginnen zum Beispiel von Riesling Type, Hamburg (konsequente Namenswahl der Herren Durst und Weinland). Sehr schön, zu sehen, wie allerorts Schriftfans zusammenfinden!

Gunnar Bittersmann – „FOIT, FOUT, FUCK.“
Gunnar Bittersmann: „FOIT, FOUT, FUCK.“Gunnar bewies in seinem Vortrag extrem gutes Rhythmusgefühl, kein Wunder, tritt er doch als Gitarrero einer Rockband auf. Er zitiert Laura Kalbag, Accessibility for Everyone, überzeugt mit schrifttechnischem Sachverstand und schlüssigen Abkürzungserklärungen (WOFF = weg mit den ollen Font-Formaten, FOIT = flash of invisible text usw.). Mit weiteren Detail muss ich leider passen und darf an dieser Stelle auf unseren bisher einzigen Typotechnikstammtisch verweisen. Und sprecht Gunnar selber an! Als Stammgast ist er stets präsent und offen dafür. Toll fand ich seine Anmerkung, dass in jedem Schriftvortrag (so also auch in seinem) eine Folie in Comic Sans zu erfolgen habe. 

Inga Plönnigs – „Magnetische Momente“
Inga Plönnigs: „Magnetische Momente“Inga machte in Ergänzung zum Future-Fonts-Vortrag (gemeinsam mit Daria Petrova, siehe weiter oben) wo sie Messer publiziert, ihren Gestaltungsprozess zur Magnet deutlich, mit der sie bei Type and Media in Den Haag graduierte. Begleitet von Feststellungen wie „das ist ja interessant“ und unerwarteten Entdeckungen wie dem „opportunistischen Kontrast“ durchleben wir mit ihr den Entwicklungs-, oder sollten wir sagen: Erweckungsprozess einer Schrift in schönster Transparenz. Es sei an dieser Stelle zu Ehren der Magnet eine wortspielerische Plattitüde erlaubt: höchst anziehend!

Jacob Heftmann – „Telling the Story of IBM Plex“
Jacob Heftmann: „Telling the Story of IBM Plex“Jacob, unsere Zufallsüberraschungsgast aus New York, macht anhand der Plex für IBM das Thema Custom Type plastisch, oder mehr noch: Branding mit Schrift. Corporate Branding, in diesem Fall. Das Unternehmen IBM setzt mit seiner neuen Haus- und Universalschrift markentechnisch Maßstäbe und macht sich noch unverwechselbarer. Wunderbarerweise wurde ein internationales Team Native Speaker und Type Designer diverser Sprachen und Schriftkulturen zusammengestellt – nur so kann es gehen und nur so geht es richtig, wird es richtig gut. Im Ergebnis ist die IBM Plex bestens gelungen, wird der Schriftgestaltungsprozess mitsamt aller Beteiligten exzellent kommuniziert und ist die (vom Publikum nicht uneingeschränkt gutgeheißene) Verbreitung als Free Font nur konsequent: IBM hat einst schon als Weltmarktführer und SchreIBMaschinen-Kultmarke auch in Deutschland das maschinelle Schreiben, ergo die selbsttätige Erstellung, Verbreitung und Vervielfältigung von Text ganz wesentlich vorangetrieben. Großes Lob, Dank und Huldigung meinerseits.

Lukas Horn – „fragenziehen“
Lukas Horn: „fragenziehen“Lukas hat sich ein großartiges Interview-Format ausgedacht: Die zu Befragenden ziehen sich ihre Fragen selbst. Gesetzt ist eine feste Karte mit der Aufschrift „Schrift“. Auf allen anderen Karten stehen andere Wörter, wie Innovation, Kunst, Musik, Natur, Toleranz und Trend, alle möglichen Wörter halt, die man sich zuziehen kann. Man reagiert auf die Kombination, also zum Beispiel (wie icke) auf „Schrift und Liebe“, oder „Schrift und Sprache“ (hatte ich zum Glück auch). Vom Publikum befragt nach Auffälligkeiten beim Antwortverhalten teilte Lukas mit, dass nicht etwa Paarungen wie „Schrift und Sex“ zu Schüchternheit führten, sondern bislang nur bei „Monopol“ auffallend zögerlich reagiert bis gar Antwort verweigert wurde. Aber dann gilt: neue Karte, neues Glück.

Manuel Viergutz – „Design ■ Fresh 😎 Display-Fonts 😍“
Manuel Viergutz: „Design ■ Fresh 😎 Display-Fonts 😍“Manuel machte den würdigen Abschluss, auch er ein Vortragender mit Heimvorteil. Als Mitarbeiter von drucken3000 ist er hier im Hof sozusagen zuhause und zeigt, wie er das Handwerkliche in die digitale Tat umsetzt. Seine rauen, rustikalen, bulligen Buchstaben erinnern an Kartoffeldruck und Holzschnitt, an grob Gehauenes und, wie soll man sagen: körperlichen Gestaltungspaß. Ob Hausnummern oder Schreibmaschinen, Aufblas- oder Spielbuchstaben, Manuel findet und setzt um und hat, unglaublich produktiv wie er ist, bereits rund 40 ausdrucksstarke Display Fonts im Sortiment. Tendenz steigend.

Das war allerhand. Es war schön, es war berührend und lehrreich. Volle Punktzahl auch für unser Publikum, das jeden Vortrag ebenso interessiert wie humor- und liebevoll begleitet hat. Man gab spannende Nachfragen, witzige Zusatzideen, launige Kommentare und Anekdotisches zum besten, teilte Fachwissen und Hintergründe. Fröhliche Bereitschaft zum fortgesetzten Austausch auch bei den Vortragenden, genug Bier und handgepflückte Pfefferminze für frischen Tee (die Stimmbänder der Moderatorin hatten etwas gelitten) – was will man mehr!

Hier noch ein paar Eindrücke von der Atmosphäre des Abends (Fotos Sol Matas):

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11.04.18: Veronika Burian

Please scroll down for English version. Wie letztes Jahr findet der Typostammtisch im April auch diesmal am Vorabend der Typo Labs statt. Wir treffen uns ausnahmsweise am Mittwoch und freuen uns auf zahlreiche internationale Besucher. Als Sprecherin dürfen wir Veronika Burian von der Foundry TypeTogether bei uns begrüßen. Veronika studierte Industriedesign in München und arbeitete als Produktdesignerin in Wien und Mailand. 2003 schloss sie das Typeface-Design-Masterprogramm in Reading ab. Gemeinsam mit José Scaglione gründete sie drei Jahre später das Schriftenlabel TypeTogether. Aber genug vorweggenommen. Wie das eine zum anderen führte wird sie uns selbst erzählen. Wir freuen uns darauf, gemeinsam einem Blick auf die Projekte, Arbeitsweise und Gedanken hinter TypeTogether zu werfen und Einblicke in Veronikas persönlichen Werdegang zu erhalten. Nach dem Vortrag ist dann noch genügend Zeit, um fachzusimpeln und sich mit den internationalen Gästen auszutauschen. Der Vortrag findet auf Englisch statt. Wir freuen uns darauf, euer Typostammtisch-Team /// It probably does not count as a tradition if something is done twice in a row, regardless we are looking forward to again welcome the international type community to Berlin this April. As a perfect start into the intense and interesting days that are Typo Labs 2018, we are very proud to welcome Veronika Burian as our speaker for this special occasion. After studying Industrial Design in Munich and working as a product designer in Vienna and Milan, she graduated from the Reading’s Typeface Design master program in 2003. Three years later she founded the type foundry TypeTogether together with José Scaglione, publishing original typefaces and collaborating on tailored typefaces for a variety of clients ever since. We look forward to getting a glimpse of the projects, working methods and thinking behind TypeTogether, as well as getting an inside look at Veronika’s personal career path. After the talk, there will be enough time to get to know the local type crowd and mingle with international guests. The talk will be in English. See you soon in Berlin, your Typostammtisch Team   When? On Wednesday, 11th of April, at 7 pm Where? At LucasFonts, Eisenacher Straße 56, 10823 Berlin-Schöneberg U-Bahn: U7 to Eisenacher Straße Bus: M48, M85, 104, 187, N42 to Albertstraße S-Bahn: S1 to Julius-Leber-Brücke or S1, S41, S42, S45, S46 to S Schöneberg  
Diesen Monat möchten wir euch auf folgende Events hinweisen: Petra Rüth veranstaltet ihr nächstes kostenfreies Meetup für alle Schreibinteressierten am 18. April, Zitat Petra: „Vielleicht animiert es einige Theoretiker, sich auch mal praktisch auszutoben“. Autor Jens Müller präsentiert im Gespräch mit Dr. Michael Lailach (Kurator und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kunstbibliothek Berlin) und Typostammtischgast Prof. Bernard Stein (Ott+Stein) das laut PAGE Magazin „beste Buch über deutsche Designgeschichte“: Design-Pioniere. Die Erfindung der grafischen Moderne (parallel auf Englisch erschienen unter dem Titel Pioneers of German Graphic Design): Donnerstag 26. April, 18 bis 20 Uhr, Kunstbibliothek am Matthäikirchplatz 6 in Berlin-Tiergarten, Eintritt frei. Und vom 27. bis 29. April 2018 richten die 24. Leipziger Typotage den Blick auf damals, heute und in der Zukunft.
Die Titelzeile zeigt die Protipo Narrow Semibold Italic von Veronika Burian & José Scaglione. Das Foto zeigt die Essay Text von Ellmer Stefan im Book Type Catalogue von TypeTogether.

15.03.18: Stammtisch-Stammtisch

Nach den kräftigen Minusgraden in den letzten zwei Wochen wollen wir uns vom Winter verabschieden und hoffen auf einen sonnigen Start in den Frühling. Und wo sollte das besser gehen als im „Sonnenstudio“ in Kreuzberg?!

Florian Hauer wird den Abend mit einer kleinen Präsentation über das Typodarium beginnen. Ohne schon zu viel vorweg zu nehmen: Es ist ein Abreißkalender, bei dem man sich jeden Tag auf eine neue, frische Schrift freuen darf (herausgegeben von Lars Harmsen und Raban Ruddigkeit, Verlag Hermann Schmidt).

Den Rest des Abends wollen wir etwas freier als sonst gestalten und in den offenen Austausch mit euch gehen. Bringt also gern Projekte, digitale wie analoge Entwürfe oder typografische Fundstücke mit, die ihr zeigen und mit anderen teilen möchtet. Gerne könnt ihr dafür den bereitgestellten Beamer nutzen, um es in großer Runde zu zeigen. Vielleicht aber nutzt ihr auch die Chance, um euch ein ganz individuelles Feedback zu holen, gemütlich bei einem Getränk? Gern können wir auch die Zeit nutzen um vielleicht an der Podiumsdiskussion im Januar anzuschließen und Themen zu diskutieren, die in der UdK keinen Platz mehr hatten…

Wie auch immer sich der Abend entwickeln wird – es wird sicherlich ein schöner Abend werden.

Wann? Donnerstag, 15. März, 19 Uhr
Wo? Lausitzer Straße 10, Aufgang C, 3. Etage, 10999 Berlin-Kreuzberg
U-Bahn: U1 bis Görlitzer Bahnhof, U8 bis Kottbusser Tor oder Schönleinstraße
Bus: M29 bis Görlitzer Bahnhof oder Spreewaldplatz

Wir freuen uns auf euch,
euer Typostammtisch-Team


Diesen Monat möchten wir euch auf folgende Veranstaltungen hinweisen:

Im März dürfen wir uns auf die alljährliche Leipziger Buchmesse freuen: vom 15. bis 18. März findet sie statt. Am 21. März eröffnet der BOX Freiraum in Kooperation mit den Freunden des Museums für Islamische Kunst im Pergamonmuseum e.V. die erste große Einzelausstellung des international bekannten syrischen Künstlers, Kalligraphen und Schriftdesigners Mouneer Al Shaarani – منير الشعراني. Vorträge und Workshops schließen sich an (23. und 24. März c/o BOX Freiraum, 31. März–1. April „Matchmaking“ zusammen mit Lucas de Groot und Rik Watkinson) sowie ein Künstlergespräch über die Geschichte der arabischen Kalligraphie, bei der Mouneer die Namen der Teilnehmenden schreiben wird: 27. März 16 Uhr im Mschattasaal im Museum für Islamische Kunst im Pergamonmuseum. Weitere Infos bei BOX Freiraum. Außerdem findet die Ausstellung Bisco Smith: Journey in der Urban Spree Galerie vom 9. März bis 21. April statt (Eröffnung am 8. März 19–23Uhr).


Die Titelzeile wurde in der „WhoMadeWho“ von Bureau Borsche gesetzt – veröffentlicht im Typodarium. Das Foto stammt von Olli Meier und ist während eines Besuchs in der Lause10 entstanden. 

Nachbericht 73. Typostammtisch: Zeitreise mit Klaus Rähm

Die Stühle stehen, das Licht ist gedimmt, das erste Dia (auf der Nebenleinwand) sorgt für Stimmung: Ein launiges „Vorsicht, Schrift“-Schild auf altem Gerät ist dort zu sehen. Klaus betitelt seinen eigentlichen Vortrag „Typotaten“ und eröffnet ihn mit einem Foto von sich selbst als Vierjährigem. Das war genau in der Kriegszeit, „und das war furchtbar“, und das müsse er jetzt hier erst mal erklären, dass das eine schreckliche Zeit war. Klaus Rähm ist Jahrgang 1937. Der junge Nachkriegsklaus wird in der DDR zum Leistungsturner; wir sehen ihn als obersten auf einem Turm junger Männer, im Handstand steht er auf den Schultern eines anderen. Beeindruckend! Beeindruckend sportlich wirkt er ja bis heute.

Klaus Rähm mit Lucas de Groot bei der Vorbereitung: Auswahl der Arbeitsproben für die vortragsbegleitende Ausstellung.

Man kann das ja ruhig auch mal so sagen

Diese ersten Bilder bringen uns Klaus näher in seiner Lebenserfahrung. Auf einem weiteren zeigt er uns ein Schaufenster mit einer von ihm in seiner Lehrzeit frei Hand gezeichneten Unterzeile. Diese Inschrift, in schmalen Grotesk-Versallettern, läuft schnurgerade unterhalb des Schaufensters entlang, darin eine liebevoll ausgestellte und dekorierte, aber nicht eben üppige Warenauswahl. Etwas dürftig und rührend und eher traurig wirkt das ganze Arrangement. Es gab ja nicht viel und „es gab keine Farbfotos“, nur dieses düster-verschwommene Schwarzweiß. Trotzdem – oder erst recht – interessant, diese wenigen Bilder, begleitet von ein paar Sätzen nur: Schon wird uns der Lebenshintergrund von Klaus Rähm deutlich. Wie früh sich seine fachlichen Interessen und sein Sportsgeist doch bereits zeigten. Und, „das kann man ja ruhig auch mal so sagen“: Er ist weit gekommen.

In der Zwischenzeit hat sich so manches Vokabular geändert. An einigen Stellen weist Klaus darauf hin, und auf die Rechtschreibreform; er scheint jedes Eszett zu vermissen, als sei es ihm persönlich weggenommen worden. Susanne Zippel in der ersten Reihe gibt ihm vehement recht angesichts des schönen Wörtchens „iß“ (heute „iss“) und der i-ß-Ligatur, die Klaus daraus gemacht hat.

Klaus reflektiert sein eigenes Vokabular und was heute anders ist. Etwa wenn er das Wörtchen „Lehrling“ benutzt, denn ein solcher sei er gewesen, ein Lehrling, und das sei auch richtig, es gehe ja darum, etwas zu lernen, in die Lehre zu gehen. „Auszubildende“ dagegen klingt für ihn „so objekthaft“, das fände er komisch, „wie so Objekte“ klänge die Bezeichnung, und das müsse erlaubt sein, dass er das hier jetzt erst mal sage. Genauso hatte er halt „einfach Studenten“, nicht Studierende; ohne die Zusatzsilbe seien sie auch gut ausgekommen. Klaus ist aus dem Osten. Kaum ein Mensch (ob männlich oder weiblich) hat im Osten daran gedacht, bei grammatikalisch männlichen Formen, bei der Bezeichnung von Berufsgruppen etwa, nicht automatisch und selbstverständlich an Frauen wie an Männer zu denken. Die Frage stellte sich gar nicht. Weil Berufstätigkeit für alle selbstverständlich war? So haben es mir speziell meine Ostkolleginnen x-fach erklärt und erbittert verteidigt – „ick bin Grafiker, Mensch, hör doch uff“, hieß es etwa, wenn ich auf der „Texterin“ bestand und die Visitenkarten auch für die Grafikerinnen korrekt bedrucken lassen wollte.

Klaus Rähm formuliert sehr fein, sehr genau und führt uns in seiner freundlichen, unprätentiösen Offfenheit, charmant berlinernd, durch die Fülle seiner Werke. Und „Fülle“ wirkt hier so als Wort leicht verharmlosend…

Die Materialität von Schrift

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Nachbericht: Mastering Type 2017 und Schrift unterrichten

Schrift „Rock and Roll“ von Pedro Arilla, University of Reading, UK

Es ist Freitag etwa 15 Uhr, als ich eine Mail bekomme – Lucas steht in der UdK vor verschlossenen Türen. Jenny ist unerwartet lange beim Arzt. Schnell schreibe ich eine Mail, dass ich mich unmittelbar auf den Weg mache. Nicht, dass ich etwas an der Situation hätte ändern können, aber in Ruhe weiterarbeiten hätte ich nun auch nicht mehr gekonnt… Gegen 16 Uhr komme ich in der UdK an. Alle Wände sind aufgebaut. Benedikt, Lucas, Jenny und ihre studentischen Hilfskräfte sind nicht mehr zu sehen. Es ist die dritte Ausstellung. Jenny ist schwanger. Unerwartetes passiert. Ärger ist verständlich. Alles wird schön werden.

Ich stehe nur wenige Minuten im Raum, da kommen drei frische Masterabsolventinnen aus Zürich an, mitsamt ihrer Prozessbücher. Lächelnd, frisch und froh. Wir stellen uns vor, bedanken uns für die Bücher und geben noch einen Restaurant-Tipp ab: „Raus. Rechts. Fünf Minuten geradeaus und dann auf der rechten Ecke. Bis gleich.“ Nun noch Stühle platzieren, Bücher zuordnen und anbinden, iPad mit der Detailpräsentation bestücken, den Beamer ausrichten und fegen. Lampen vorne an und hinten aus – die ersten Besucherinnen und Besucher sind da. Schnell wird es voll, der Geräuschpegel steigt – es entwickelt sich eine Schwarmbewegung im Kreis. Quatschen, einen Meter vor, Poster gucken. Quatschen, einen Meter vor, Poster gucken. Quatschen, …

Im Hintergrund Arbeiten aus Zürich

Freitag Abend (Foto Tanja Blaufuß)

Freitag Abend im Medienhaus der UdK Berlin (Foto Lucas de Groot)

Benedikt läuft zwischen den gut 100 Gästen von einem Absolventen zur anderen Absolventin. Wer hat alles eine Präsentation dabei? Wer will sein/ihr Projekt als erstes vorstellen? Habt ihr einen eigenen Computer? Es ist bereits nach 19 Uhr. Mit einem kräftigen „Hallo und herzlich willkommen!“ lenke ich die Aufmerksamkeit auf Benedikt, der die Ausstellung eröffnet. Wie wir Benedikt kennen, erwähnt er Wichtiges gleich zu Beginn: „Der kommende Typostammtisch findet am 15. Februar statt“ und übergibt das Wort schnell und geordnet zu den Hauptakteurinnen und -akteuren dieses Abends.

Gespannt hören alle zu (Foto Sol Matas)

Andreas Schenkel fängt an. Wir erfahren von ihm, wie überfällige isländische Vulkane und eine Reise mit Rad seine Schriftformen und seine Schriftnamen beeinflusst haben. Miklós Ferencz’ Idee liegt in der Menschlichkeit der Fehler. Manchmal fehlen Elemente in den Zeichen, die sich in einem Weißraum widerspiegeln, und manchmal spielt er in seiner Schrift mit dem absoluten Gegenteil: zu viel Schwarz. Wörtlich beschreibt er es als „It’s not a deconstruction, it’s a construction.“ Demgegenüber erforscht Lucas Descroix die Kursive und stellt dabei ihre Verwendung und formale Gestaltung in Frage. Sven Fuchs wiederum geht sehr analytisch vor. Er erforscht Fassadenschriften aus der Nachkriegszeit (genauer aus den 1950-er Jahren) und überstrapaziert ihre Gestaltungsideen, um schlussendlich eine eigene Formsprache zu entwickeln. Ganz anders Ute Kleim. Ihr ist schnell klar, dass sie weniger mit der Gestaltungsidee zu kämpfen hat als mit der Hürde, diese konsequent auf ‚Non-Latin‘ zu übertragen, ohne die Harmonie in ihrer Schriftfamilie zu verlieren. Dabei berichtet sie zum Beispiel von einer unterschiedlichen Wahrnehmung der Schriftgröße in unterschiedlichen Kulturkreisen: „Was für uns gefühlte 8pt sind, ist für andere 10pt.“Tim Meylan hat sich gefragt „What is a font family? And why does sometimes a font family look more like a ‚real family‘ when I take different fonts from other families?“. Martina Meier zeigt uns, welch großen Einfluss eine Schattenachse auf die Gestaltung haben kann und wie sie diese nutzt, um jedem einzelnen Schnitt einen ganz individuellen Character zu verleihen, ohne dabei den Bezug zur Schriftsippe zu verlieren. Weniger beeinflusst von der Vergangenheit, dafür umso mehr begeistert von der Zukunft hat Thom Janssen Variable Fonts nicht nur als neues Font-Format betrachtet, sondern als Mittel zum Entwerfen. Den Spaß am Experimentieren merkt man ihm deutlich an.

Erst Arbeitstitel, dann Gestaltungsidee: „Cowboy“. Hier zu sehen sind die unterschiedlichen Schattenachsen der Schrift von Martina Meier.

Miklós Ferencz präsentiert seine Arbeit (Foto von Tanja Blaufuß und Irene Szankowsky)

Alternative g-Formen aus dem Prozessbuch von Daniel Coull

Doppelseite aus dem Prozessbuch von Eunyou Noh

Schlussendlich haben alle unserer Type Master jeweils mehr als die geplanten fünf Minuten über ihre Idee, ihren Prozess und ihr Ergebnis gesprochen – aber ich denke ich lüge nicht, wenn ich sage, dass wir alle sehr, sehr froh darüber sind. Neben dem ersten Eindruck über die Plakate ist der tiefere Einblick in die Arbeiten ungemein wertvoll. Selbst wenn man sich die Zeit genommen hat, genauer in die Prozessbücher zu schauen, so war es doch ganz anders, die Gefühle über das gesprochenes Wort zu empfangen, als es geschrieben zu lesen. Von den letzten zwei Ausstellungen wissen wir bereits, dass der Master in Type Design für alle eine sehr intensive Zeit ist. Dies durften wir dieses Mal etwas persönlicher erleben als in den Jahren zuvor. Danke dafür. Continue reading „Nachbericht: Mastering Type 2017 und Schrift unterrichten“

Nachbericht 70. Berliner Typostammtisch: Tools zum Teilen

Mit 14 Präsentationen – einer Dichte an Vortragenden, die wir sie sonst nur von Pecha-Kucha-Abenden kennen – war die 70. Ausgabe des Typostammtischs einer unserer bisher längsten und informationsreichsten Abende. Und mit über 100 Gästen wissen wir, dass wir nächstes Jahr das Format Typotechnikstammtisch wiederholen wollen. Ihr könnt schon mal über euren Beitrag nachdenken.

Bar, WC und rlig, Ulrike stellt required ligatures in Frage. Foto: Sonja Knecht

Den Anfang machte Ulrike Rausch von LiebeFonts. Sie erklärte auf klare Weise, wie sie ihre Schriften lebendig hält. Dass man doppelte Buchstaben (die beide in einem Wort oder im Text kurz hintereinander erscheinen) rotierend durch Varianten ersetzen kann, ist schon toll – aber, dass man Konsonanten und Vokale getrennt behandelt, und Gruppen von Buchstaben vertikal verschieben kann, ohne doppelte Glyphen einzubauen, hat auch die Programmierer-Nerds an den Stuhl gefesselt. Wir hoffen mit Ulrike, dass das Bewusstsein für diese Feinheiten bei den Anwendern weiterwächst, da selbst automatische OpenType-Feature-Funktionalitäten auf dem Weg zum Endprodukt oft auf magische Weise verloren gehen.

Andreas „Eigi“ Eigendorf zeigte sein weiterentwickeltes Sprachentool (Character Set Tool) von Alphabet Type. Es hilft, die Sprachunterstützung und Encodingabdeckung von Schriften zu überprüfen, sprich: Es analysiert eine beliebige Schrift und spuckt lange Listen aus, in denen niedergeschrieben ist, welche Sprachen unterstützt werden. Die beiden Onlinetools Character Set Checker und Builder wurden bereits auf der ATYPI-Konferenz in Warschau von Eigis Kollegen präsentiert; diesmal lag der Fokus auf der zusätzlichen Funktionalität, dass die Sprachdatenbank auch aus eigenen Skripten per API angesprochen werden kann.

Ferdinand Ulrich beglückte uns mit wunderschönen Bildern von Hilfsmitteln, die man in einer Blei- und Holzdruckerei braucht. Insbesondere erklärte er und das Wie und Warum des Walzengreifs; der wird benötigt, um die Höhe der Walze genau auf die Höhe des Druckmaterials zu bringen. Das hübsche Gerät, das er in antiker Originalverpackung dabei hatte, gibt es zu bewundern bei p98a. Auch hat Ferdinand seinen Vortrag nun als Artikel veröffentlicht.

Frank Rausch hat ein Tool namens Typographizer entwickelt, mit dem auf Taschenlesegeräten (wie schlauen Telefonen) falsche An- und Abführungszeichen in typografisch korrekte Formen umgesetzt werden. Seinen Code (programmierte Zeilen) darf jeder in seine eigene App (Progrämmchen) ein- und umbauen; anhand einer Demo-App verdeutlichte uns Frank wie schnell seine Programmbibliothek in unsere eigenen Apps hineinkommen. Endlich automatische Mikrotypografiekorrektur auf MacOS.

Friedrich Forssman erklärte uns per Videobotschaft, gemütlich Pfeife rauchend vor einer enormen Bücherwand ein InDesign Plugin, womit Ligaturen für die deutsche Sprache korrekt aufgelöst werden. Sicherlich neu für viele der zugewanderten Gäste war, dass man sogar laut Duden im Deutsch nicht über Wortfugen ligieren (Buchstaben verbinden) darf. In seinen zwei sehr kurzweiligen filmischen Darreichungen führte Friedrich das Plugin vor, und zeigte, wie man mittels einfachem Suchen und Ersetzen den aufgelösten Ligaturen noch ein wenig extra Luft einhauchen kann, so dass sie nicht wie misslungene Verklebungen daherkommen. Weitere Informationen zu dem Skript gibt es im unteren Bereich seiner Website.

Georg Seifert führte zunächst das von Friedrich Forssman erdachte Durchschein-Skript für InDesign vor: „Durchscheinen“ simuliert, wie Seiten aussehen, wenn sie auf dünnem Papier gedruckt werden. Dies und auch der famose Bundschattenfilter sind auf der oben genannten Seite von Friedrich herunterzuladen. Anschließend erklärte Georg, wie er Github selbst fuer die Programmierung von seiner weltberühmten Glyphs App verwendet, und stellte ein Tool namens CommitGlyphs vor, mit dem SchriftgestalterInnen genau dieses Git-Plattform auch für die Verwaltung von Glyphs-Dateien nutzen können, speziell wenn man mit mehreren Leuten an einer Schriftentwicklung arbeitet. Interessant ist so ein System aber auch, wenn man einen klar strukturierten Überblick über die eigene Arbeit haben will.

In einem spontanen Einschub erklärte uns Nadezda Kuzmina, was Git überhaupt ist und wie sie Github als Gestalterin nutzt. Sie zeigte uns eine feine Pixelschrift, die nur aus PNG-Bildern aufgebaut ist (die sie für das Spiel Mogee entwarf), und Logos Logos als OpenSource-Dateien, an dem mehrere Personen arbeiten können: womöglich ein kleiner Ausblick in die Zukunft der gestalterischen Berufe.

In der halbstündigen Pause wurden die letzten Reste aus den enormen Suppentöpfen geleert. Nur die besten Zutaten wurden hierfür verwendet: die letzten drei Kiezkürbisse aus Hof 3 der Eisenacher 56, direkt hinter dem Vortragsraum.

Jens Kutílek hat ein wahrhaftes Programm für MacOS und Windows gebaut, mit dem sich Namen für die unterschiedlichsten Dinge, zum Beispiel Schriftfamilien, erfinden lassen. Man gibt zuerst seine Lieblingsbuchstaben ein, bestimmt die minimale, optimale und maximale Länge des Wortes und sucht sich eine Sprache oder ein Themengebiet aus, in dem der Name verwurzelt sein soll. Aus dem Publikum kam die Frage, ob man auch Babynamen zum Beispiel deutsch mit bulgarischem Touch suchen lassen kann. Der WoLiBaFoNaGen ist derzeit in der Version 0.1.0 erhältlich, Wünsche und Anregungen könnt ihr auf der Github-Seite des Projekts hinterlassen.

Klaas zaubert mit Grep und Unterlängen in InDesign. Foto: Sonja Knecht

Klaas Posselt von der InDesign User Group Berlin zeigte uns mehrere beeindruckende typografische Möglichkeiten der in InDesign eingebauten GREP-Funktionalität, was enorme Zeitersparnisse bei der Formatierung von Texten erlaubt. Er erklärte, wie man feinste Spationierungsanpassungen automatisch machen kann, wenn die in der Schrift eingebauten Unterschneidungstabellen nicht ausreichen (zum Beispiel bei Tabellenzahlen), oder bei unterschiedlichen Schriften und Formatierungen. Zum Schluss zeigte Klaas das Aufräumen von typografischen Sünden wie falschen Minus- und Multiplikationszeichen und sogar Hurenkindern vor, alles mit sehr kurzen GREP-Zeilen. Alle gezeigten Dateien inklusive der dazugehörigen GREP-Stile stellt Klaas hier zum Download bereit.

Lasse Fister, speziell aus Nürnberg angereist, zeigt seine Arbeit an FontBakery, den Schrifttestwerkzeugen von Google für Google Fonts. Es analysiert die komplexesten Schriften und meldet alles, was daran (technisch) nicht in Ordnung sein könnte. Dies funktioniert sowohl mit einzelnen Schriften, aber auch mit ganzen Schriftbibliotheken. (Danach zeigte er noch mehr, aber da konnte ich nicht aufpassen, weil die Batterien des Mikrofons ausgetauscht werden mussten, und ich selbst gleich dran war. Danke Olli fürs Ergänzen!) Derzeit arbeitet Lasse an einer Version der Schrifttestwerkzeuge, bei der alle Tests in der Cloud ablaufen. Als Bonus stellte Lasse außerdem mdlFontSpecimen vor, eine Website, die automatisch ausführliche Schriftmuster für Fonts erzeugt.

Luc(as) de Groot zeigte, wie man mit Hilfe von einer Fotokopie oder eines Laserausdrucks, halbkaltem Kaffee (kein Espresso!) und Scotch Magic Tape (oder irgendeinem anderen transparenten Klebeband) Typografie auf praktisch allen Oberflächen anbringen kann, die nicht in einen Laserdrucker passen. Man klebt das Tape auf das Gedruckte, tunkt es in den Kaffee und reibt dann an der Rückseite mit kreisenden Bewegungen das Papier weg. Der Toner bleibt sauber auf dem Tape zurück und kann nach Trocknung ohne weiteres auf Objekte geklebt werden, oder mittels Hitze (Feuer, Föhn) zuerst noch verformt und verzerrt werden. Erfunden hat Luc(as) den Luc-Truc in den ’80er-Jahren während seines Studiums.

Mark Frömberg, freier Schriftgestalter aus Berlin, präsentierte seine selbstgemachten Skripte für Glyphs. Das neueste dieser Helferchen hört auf den Namen Skedge und erleichtert das Entwickeln von Glyphs-Reporter-Plugins mit einer Live-Vorschau in Glyphs. Alle anderen frei zugänglichen Skripte von Mark findet man auch im hauseigenen Plugin-Manager von Glyphs. (Ich hatte die Details vergessen, weil Glyphs nicht auf meinem PC läuft, danke nochmal, Olli!)

Anschließend zeigte unser Typostammtischorganisationsteammitglied Olli Meier mittels Live-Skype-Übertragung von der anderen Seite Deutschlands, welche Hilfsmittel er alle schon für Glyphs bereitgestellt hat. Mehrere Ebenen auf einmal löschen, kein Problem mehr. Er zeigte auch wie man mit DrawBot (Just van Rossum, Erik van Blokland, Frederik Berlaen) aus kompatiblen Glyphen ganz schnell tolle Animationen produzieren kann. Seine Scripte findet man demnächst hier.

Zum Schluss zeigte uns Sergey Rasskazov aus St. Petersburg, wie er einfach selbst eine Schriftgestaltungsschule gegründet hat, und mit tollen Lehrern in Kürze die Studenten zu tollen Ergebnissen bringt. Er führte ähnlich professionelle Unterrichtsabläufe vor, wie sie an den gefestigten Schriftgestaltungsinstitutionen gehandhabt werden.

Vielen Dank nochmal an alle Vortragenden für ihre Beiträge und eure tollen Tools! Und danke an Jens Kutílek für Ergänzungen und Rechtschreibkorrektur 🙂 Continue reading „Nachbericht 70. Berliner Typostammtisch: Tools zum Teilen“

29.09.17: Jan Middendorp

Please scroll down for English information about the speaker.

Dieser Typostammtisch findet wieder im „Sonnenstudio“ in Kreuzberg statt – vielen Dank Eike Dingler (Mauvetype) und Sol Matas (Huerta Tipográfica) und ihrer Bürogemeinschaft! Es wird wohl eine der letzten Gelegenheiten sein, diesen wunderschönen Ort zu genießen – warum, das könnt ihr hier nachlesen.

Wir freuen uns auf Jan Middendorp. Der Holländer-Wahlberliner ist Autor, Buchgestalter und „selbstbeigebrachter“ Grafikdesigner, unter anderem. Jan verfügt über enormes Typografiewissen, hält Vorträge weltweit und bereichert mit seiner horizonterweiternden Art und seinen Publikationen typografische Bibliotheken, renommierte Schriftfirmen und die Berliner Type Community. Als Vortragssprache wählt er Englisch, für uns mit deutschen Untertiteln; Gespräche führt er gern auch auf Italienisch und Holländisch.

From Friends to Fust and back

We are happy to have Jan Middendorp as our speaker, author of Shaping Text, Hand to Type, and Dutch Type, to name only a few. Jan will present his personal history of letterforms. He never studied graphic design, but made his first book at the age of six. Jan worked as a theater and dance critic, in copywriting and as a self-taught graphic designer. He was hired by FontShop Benelux in Gent, Belgium, to conceive their magazine, and later became the co-curator of the FontFont FiFFteen exhibition and co-editor of Made With FontFont. In Berlin, Jan worked with LucasFonts, then MyFonts, and produced books with Gestalten and BIS Publishers. He left MyFonts in 2016, when the Monotype corporate influence became too strong for his taste. Then, he says “to confuse the font establishment, I started up the shadiest type organisation in the world: Fust & Friends.“

Who is Fust? Who want to be his friends? Get to know more on Friday, September 29.

Presentation in English with German footnotes.
Q&A and discussions in German, English, Spanish, Dutch, Italian …

Wann? FREITAG, 29. September, 19 Uhr
Wo? Lausitzer Straße 10, Aufgang C, 3. Etage, 10999 Berlin-Kreuzberg
U-Bahn: U1 bis Görlitzer Bahnhof, U8 bis Kottbusser Tor oder Schönleinstraße
Bus: M29 bis Görlitzer Bahnhof oder Spreewaldplatz

Bis dahin,
euer Typostammtisch-Team


Aufruf: Tools zum Teilen

Für unseren Typotechnikstammtisch (den ersten seiner Art) am 19. 26. Oktober suchen wir Leute, die ein frei zugängliches Werkzeug, Miniprogramm oder hilfreiches Script vorstellen möchten – Kurzpräsentationen zu typografischen Problemen, offenen Fragestelltungen und möglichen Lösungen. Es darf natürlich um Plugins und Scripts gehen, aber gern auch um typografische Helfer für InDesign, das Web oder die analoge Welt. Wir sind gespannt auf eure Einreichungen (am besten via E-Mail).

Für alle: Bitte den 19. 26. Oktober vormerken. Newsletter dazu folgt.


Unsere Empfehlungen diesen Monat

Unter dem Titel „Klartext“ eröffnet – Achtung! – jetzt am Donnerstag, den 21. September, um 19 Uhr Typostammtischstammgast (TStTStG) Klaus Rähm seine Typografik-Austellung in der Galerie Ost-Art in der Giselastraße 12 in 10317 Berlin-Rummelsburg (S5 und S75 bis Nöldnerplatz), mit Live-Musik zu ausgewählten Schriftbildern. Im Brücke-Museum am Rande des Grunewalds (Bussardsteig 9, 14195 Berlin) ist die Jubiläumsausstellung „50 Jahre Brücke-Museum“ angelaufen: Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und Druckgrafik der 1905 gegründeten Künstlergruppe. Vom 22. bis 24. September 2017 findet die Kunstbuchmesse Friends with Books im Hamburger Bahnhof statt. Am 24. September findet bei Small Caps der erste von drei Letterpress-Workshops statt, diesmal werden Plakate gedruckt.


Die Titelzeile wurde in der Teddy Regular von Minjoo Ham gesetzt, die demnächst bei Fust & Friends erscheint. Das Titelbild stammt von Jan Middendorp und zeigt die „Alarm“ in 72 Punkt aus seiner Sammlung.