Nachbericht 79. Typostammtisch: 1E9E, ein Jahr danach

Am 25.10. trafen sich Π(π)×Daumen 100 Buchstabenbegeisterte – nicht nur Typografen und Schriftgestalter, sondern auch Linguistinnen, Lehrer, Studentinnen und Herausgeber – an unserem bevorzugten Veranstaltungsort in Schöneberg zum Thema 1E9E: die Versalform des scharfen S.

Die Atmosphäre macht Vorfreude auf das Programm; bereits die Wegweiser durch den Hof kündigen von Begeisterung für das Thema. Drinnen angekommen, ist auf Ausstellungswänden das Wort „STRAẞE“ in 270 unterschiedlichen Schriften gesetzt. Auf den Tischen liegen Kekse in Versaleszettform.

Bereits die Wegweiser kündigen von Begeisterung für das Thema. / Quelle: sofern nicht anders genannt, stammen alle Bilder von Nadya Kuzmina. Vielen Dank!
Benedikt und Dan treffen letzte Vorbereitungen zur Ausstellung.
Thematisches Gebäck von Jens und Dan. Danke noch mal!

Nach einem warmen Willkommen und beseelter Einleitung von unserer Sonja spricht als erste Nadine Roßa, bekannt durch Design made in Germany und ihre Sketchnotes. Bedingt durch ihren Nachnamen ist Nadine persönlich betroffen. Bereits in ihrer Diplomarbeit beschäftigte sie sich umfassend mit dem Buchstaben ß. Entstanden ist ein Buch namens Eine scharfe Type – ein Erklärbuch zum Thema, das bereits Skizzen zur Versalform beinhaltet. Ihr zweites Buch dazu, Viele scharfe Worte, enthält alle deutschen Wörter mit scharfem S.

In ihrem Vortrag weiß Nadine von ß-Pannen in offiziellen Dokumenten zu erzählen, wo Namen oft in Versalien geschrieben werden. Auf die vermeintliche Frage „Wer braucht ein Versaleszett?“ hin kann sie also nur feststellen: „Ich brauche das!“ Weiterhin moniert sie, dass das Versaleszett zwar seit 10 Jahren offiziell sei, die Verwendung sich aber bis heute nicht gerade unkompliziert gestalte – so könne man das Zeichen auf Twitter zwar eingegeben, es werde aber auf dem Mac nicht angezeigt. („Danke, Apple!“, wie Lucas de Groot konstatiert.) Nadine zeigt uns viele kreative Lösungen zur Umschiffung dieses Problems, zum Beispiel ein B mit Unterlänge oder die Verwendung des Kleinbuchstabens ß zwischen Versalien.

Ein EXTRAWICHTIGER Buchstabe

Kurzweilig präsentiert Nadine weitere Fallbeispiele des Versaleszetts: Karls Erdbeerhof verwendet das neue Zeichen sehr konsistent, der Berliner Zoo ebenfalls – allerdings in einer Form, die sicherlich bei Ausländern als B fehlinterpretiert wird. In der Werbung (wo Versalien bekanntermaßen EXTRAWICHTIG sind) wird es immer selbstverständlicher eingesetzt. Die Schrift für die Bundesregierung von Supertype enthält es – auch gegen die Überzeugung des Supertype-Designers Jürgen Huber – aber der Kunde ist eben König (auch wenn der Spruch im Falle des Auftraggebers Bundesregierung zu Verwirrung führen könnte… Aber das soll hier nicht weiter ausgeführt werden).

Abschließend zeigt Nadine, die ihren Arbeitsschwerpunkt seit einigen Jahren stark in Richtung Sketchnotes verlagert hat, dass die neue Buchstabenform mit ein wenig Übung auch in die eigene Handschrift sehr gut einzubauen ist.

Nadine zeigt ihren Lettering- und Handschrift-Stil, der selbstverständlich ein Versaleszett beinhaltet.
Stolz wie Bolle: Sonja begrüßt die Duden-Damen Ursula Fürst (Mitte) und Melanie Kunkel (rechts).

Mit der stolzerfüllten Frage „Wann hat man schon mal den Duden im Haus?“ präsentiert Sonja anschließend die „Dudendamen“ Melanie Kunkel und Ursula Fürst. Frau Kunkel ist Redakteurin in der Dudenredaktion, Frau Fürst Herstellungsleiterin.

Frau Fürst beginnt mit dem Thema Das Versaleszett in der Praxis. Seit dem 29.06.2017 gibt es den neuen Buchstaben offiziell im deutschen Alphabet – die Verwendung ist optional. Mit der Rechtschreibreform 1996 verlor das Eszett an Bedeutung, weil nach der neuen Regelung weniger Wörter damit geschrieben werden, z. B. „daß“ –> „dass“. Gleichzeitig ist die Daseinsberechtigung des Buchstabens sogar größer geworden, weil die Aussprache über die Verwendung des ß bestimmt: Es zeigt an, dass der vorangegangene Vokal lang gesprochen wird, vgl. „Maße“ und „Masse“. Somit hat auch die Versalform ihre Berechtigung.

Von der Fußnote auf’s Cover

Frau Kunkel erzählt anschließend mit glaubhafter Begeisterung und Detailverliebtheit die Geschichte des Versaleszetts aus Sicht des Duden. Im ersten Duden von 1880 wurde zumindest der Kleinbuchstabe bereits erwähnt. Dieser Ur-Duden war natürlich in Fraktur gesetzt und das ß (die Form, die nach z aussieht) entstand ebenfalls in der Fraktur. Es hieß, dass der entsprechende Laut in der lateinischen Schrift mit langem s und kurzem s geschrieben werden sollte, oder „wenn vorhanden“, mit der ß-Ligatur. In der dritten Duden-Auflage von 1887 hieß es in einer Fußnote zum Thema: „Preußen verlangt langes s, kurzes s; Württemberg die Eszettligatur.“ In der Fraktur war die Versalform des ß natürlich kein Thema, weil man Fraktur nicht in Versalien schreibt.

Die 6. Auflage des Duden von 1900 allerdings erweiterte die Fußnote der Vorgänger. Es wurde nun empfohlen, im Versalsatz der Lateinischen Schrift (Antiqua) das Zeichen als „SZ“ zu schreiben, weil ein Doppel-S bei einigen Wörtern zu Verwirrung führe, vgl. wieder „MASZE“ und „MASSE“. (Etwas verwirrend vielleicht auch, dass im Duden meist vom kurzen s, aber auch vom runden s die Rede ist; gegenüber dem „langen s“.)

1902 wurde diese Regelung neu formuliert und „entfußnotiziert“ (soll heißen: ins Regelwerk aufgenommen). In lateinischer Schrift waren anstelle des Fraktur-ß sowohl die Kombination aus langem und kurzem s, als auch die Ligatur ß zugelassen. Nur drei Jahre später, in der 8. Auflage von 1905, hieß es, die Kombination aus langem und rundem s sei ganz zu vermeiden – anscheinend hatte sich das ß zu diesem Zeitpunkt in der lateinischen Schrift etabliert.

Das Publikum verfolgt gespannt die Geschichte des Versaleszetts im Duden.

In der 9. Auflage von 1915 gab es zum erstem Mal Überlegungen zum Eszett im Versalsatz von lateinischer Schrift: „die Verwendung zweier Buchstaben (SZ) für einen Laut ist nur ein Notbehelf, der aufhören muss, sobald ein geeigneter Druckbuchstabe geschaffen ist.“

Die 12. Auflage von 1941 schrieb vor, dass bei Großschreibung lateinischer Schrift das ß nun durch ein Doppel-S ersetzt werden sollte, weil die Verwendung der Kombination aus S und Z sich nicht durchgesetzt habe. Diese sei aber immer noch erlaubt, um Verwechselungen bei bestimmten Worten vorzubeugen (Lieblingsbeispiel: „MASSE” versus „MASZE”). Im Nachdruck der 12. Auflage fand schließlich der Wechsel von Fraktur auf Antiqua statt.

Nach dem Krieg splittete sich der Duden in eine West- und in eine Ostausgabe. Im Westen nichts Neues, aber in der DDR-Ausgabe (14. Auflage von 1951) fand sich der bemerkenswerte Satz „Das Schriftzeichen ß fehlt leider immer noch als Großbuchstabe.“ In der 15. Auflage von 1957 wurde hinzugefügt: „Bemühungen, es zu schaffen, sind im Gange“, und auf dem jetzt berühmten Umschlag prunkte schon eine recht überzeugende Version dieses Zeichens. In der 17. DDR-Auflage wurden alle Hinweise zum Versaleszett entfernt und in der 18. Auflage (letzte DDR-Fassung) von 1985 wurde hinzugefügt, dass Personennamen, die ein ß enthalten, bei Versalschreibung in Personaldokumenten mit dem kleinen Buchstabe ß geschrieben werden. Diese Regel ist auch heute noch im Duden verankert.

Umschlag des DDR-Duden der 15. Auflage von 1957. Quelle: https://dudensammlung.jimdo.com

Ab der 21. Auflage von 1996 (nach der Rechtschreibreform) fand man den Hinweis, dass das ß bei Großschreibung immer durch Doppel-S ersetzt werden solle; SZ sei nicht mehr zulässig.

Vom Unicode zum Scrabble-Stein

Mittlerweile in der jüngeren Geschichte angekommen, übernimmt Frau Fürst das Wort: In der 25. Auflage von 2010 wurde zum ersten Mal auf das seit 2008 in Unicode festgelegte neue Zeichen 1E9E hingewiesen. Maßgeblich verantwortlich dafür war Andreas Stötzner, der als Sprecher an diesem Abend leider verhindert ist. In der 27. Auflage von 2017 wurde das Zeichen endlich in die Rechtschreibung aufgenommen: Demnach kann es fakultativ statt Doppel-S eingesetzt werden – sofern die verwendete Schrift das Versaleszett enthält. Mit diesem Zusatz rennt man in einem Raum voller Schriftgestalter und Schriftinteressierter natürlich offene Türen ein…

Im Anschluss erzählen Frau Kunkel und Frau Fürst abwechselnd noch einige schöne Anekdoten rund um die Einführung des Versaleszetts im hohen Haus des Duden. Texte, die das ß betreffen, mussten angepasst werden, ein Newsletter wurde produziert, praktische Fragen von Kunden beantwortet, Empfehlungen für die Schreibweise geografischer Namen angepasst, und sogar das Scrabble-Spiel hat probeweise schon einige Steinchen auf dem Markt gebracht (diese bescheren dem Spieler stattliche 6 Punkte, wie es auf Nachfrage aus dem Publikum heißt).

Von pragmatischen Lösungen und vielen Fragen

In den Publikationen des Duden wurde das Versaleszett zunächst als Sonderzeichen eingesetzt. Das vorhandene Zeichen in der Hausschrift Frutiger gefällt intern nicht, da es aussehe wie eine Ligatur aus einem langen und einem runden Versal-S. Als pragmatische Lösung wird einfach das Versaleszett aus einer anderen, grob passenden Schrift eingesetzt, in der die Ligatur etwas mehr nach SZ aussieht (das Publikum ächzte leise). Der Duden möchte zukünftig beobachten, wie 1E9E in der Realität eingesetzt wird und in 10 Jahren noch einmal ein Fazit zum Thema ziehen.

In einer üppigen Fragenrunde kommt anschließend noch jede Menge Wissenswertes zur Sprache: Der Rat für deutsche Rechtschreibung wird etwa drei Jahre lang beobachten, wie sich das neue Zeichen etabliert. In Österreich wird das Zeichen scharfes S genannt, in Deutschland ist Eszett bekannter. Eine Tastenkombination sollte man mit Google finden können, allerdings hängt das vom Tastaturlayout und der genutzten Plattform ab. Wir haben nachgeforscht: In MS Word unter Windows tippt man 1E9E und anschließend Alt+X, das funktioniert unabhängig von Sprach- und Tastatureinstellungen. Weitere Tastaturkürzel und Layouts findet man auf der Seite von Ralf Herrmann: www.typografie.info: wie gibt man das große Eszett ein

Lucas de Groot springt mit seinem anschließenden Vortrag für den verhinderten Andreas Stötzner ein. Er redet zunächst über den Kleinbuchstaben ß, der in unglaublich vielen Varianten existiert und funktioniert.

Schon vor 500 Jahren wurde die Ligatur von langem s und rundem s in lateinischen Satzschriften von Köln bis Italien in einer vollendeten Form eingesetzt. In vielen Schriften sieht das ß noch genau so aus. In Frakturschriften wurden damals mehrere Formen ausprobiert, deren rechte Hälfte eher wie ein z aussieht. Noch vor 150 Jahren wurden auch in offiziellen amerikanischen Dokumenten viele lange-s- und kurze-s-Kombinationen eingesetzt – mal ligiert, mal getrennt. Das lange s fand in allen lateinischen Sprachen Anwendung. Die getrennte Schreibweise von langem s und kurzem s war damals auch in Deutschland im Einsatz. In Holland wird unterrichtet, dass man bei der Verbindung der beiden Buchstaben in der Frakturschrift die rechte Hälfte vom kurzen s an das lange s klebt, um im Blocksatz mit der Satzbreite spielen zu können. Danach ist nicht mehr erkennbar, ob es sich nun um ein z oder ein halbes s gehandelt hat, daher die Sprachverwirrung und die Bezeichnung „Eszett“.

Scharfes S oder Eszett? Das ist hier die Frage.

Vor 140 Jahren galt in einigen Bundesländern, dass eine Frakturligatur zwischen langem s und entweder kleinem s oder kleinem z in lateinischer Schrift in beiden Fällen mit einer Kombination aus langem s und kurzem s zu ersetzen sei. Man kann auch belegen, dass in den meisten Fällen der etymologische Hintergrund auf ein Doppel-S und nicht auf ein SZ zurückschließen lässt. Lucas zieht daraus das Fazit, dass die Bezeichnung „scharfes S“ historisch korrekter sei als „Eszett“.

SS oder SZ? Das ist hier die Frage.
Wie das Cedilla-Zeichen entstand

Dann zeigt Lucas, wie andere europäische Sprachen denselben Laut verschriftlichen: Ein z wurde zum Beispiel unter ein s oder c gehängt, so ist die Cedille entstanden. Ob ein Vokal lang oder kurz ausgesprochen wird, kennzeichnet die holländische Sprache durch Verdoppelung (de Groot). Im Französischen geschieht das durch Akzente (très désolée). Lucas ist der Meinung, dass man das im Deutschen auch alles hätte machen können – und überhaupt stimme die deutsche Aussprache von z und s nicht überein mit der im Rest der Welt gebräuchlichen. Dumm gelaufen, deshalb also brauchen wir das neue Zeichen…

Bereits vor etwa 100 Jahren versuchten einige große deutsche Schriftgießereien, eine Versalform für ß auf dem Markt zu bringen – vielleicht auch aus ökonomischen Gründen: neu gießen, neue Schriften, neu verkaufen? Vor etwa 60 Jahren deklinierten Designer schon alle möglichen Formvarianten durch; die erfolgreichsten Formen von heute wurden damals schon gestaltet.

Sternstunde der typografischen Demokratie

Als nächstes bittet Lucas um Mithilfe: 2010 habe Microsoft ein recht unschönes Versal-scharfes-S selbst zur Calibri hinzugefügt. In den Light-Schnitten gestaltete er das Zeichen daraufhin 2012 selbst. Nachdem er Microsoft auf die Unregelmäßigkeiten in der Schriftfamilie hinwies, hieß es, er könne eine neue Form liefern, solange die Glyphenbreiten zum Microsoft-Entwurf identisch blieben. Lucas hat an diesem Abend fünf Formvarianten vorbereitet, über die das Publikum mittels eines Formulars abstimmen soll. Erste freudig-überzeugte Stimmen im Publikum scheren sich nicht um den geheimen, demokratischen Abstimmungs-Modus.

Als Input zur Abstimmung gibt es einen kurzen Abriss darüber, welche Formlösungen in einem Versal-scharfes-S gut funktionieren, und welche nicht. Basierend auf einer ungefähr sechs Jahre alten Anleitung von Christian Thalmann seziert Lucas den Buchstaben minutiös.

Christian Thalmanns Überlegungen zur Form des versalen scharfen-S

Zum Abschluss zeigt er noch alle 270 Schriften der Ausstellung sortiert und kommentiert. Einige Erkenntnisse seien hier aufgeführt: Wenn man gegen das versale scharfe S ist, belegt man den Unicode 1E9E mit Doppel-S. Wenn man eh keinen Bock hat, skaliert man den Kleinbuchstaben ß auf Versalhöhe. Varianten mit einem symmetrischen runden Kopf lassen zu wenig Platz für eine markante Diagonale. Um eine Verwechslung mit dem B zu vermeiden, sollte das Zeichen rechts oben einen Schnabel oder eine Diagonale aufweisen. Je flacher der Kopf rechts oben ist, desto mehr Platz bleibt für eine S-Form oder Diagonale. Bei Schriften mit Kontrast sieht es besser aus, wenn die Kontraste im Laufe der Schreibbewegung wechseln: dick-dünn-dick-dünn, nicht dick-dick oder dünn-dünn. Undsoweiterblabla – etwas langwierig ist es da mittlerweile vermutlich für Nicht-Schriftgestalter geworden (an dieser Stelle auch „Hut ab!“ für das Lesen des Nachberichts bis zum Schluss). Wer das Thema noch weiter vertiefen möchte, dem sei Lucas’ Vortrag ans Herz gelegt. Wir werden darauf hinweisen, sobald die kommentierte Fassung publiziert wird.

Alle, die an diesem Abend noch nicht genug hatten, konnten die vorgestellten Buchstabenvarianten bei einem Rundgang durch die Ausstellungs-STRAẞE noch einmal nachwirken lassen. Wie immer wurde noch lange und freudig bei thematischen Keksen und Kaltgetränken nachgeplaudert und abgeschweift.

And the Winner is…

Der Kunde mag König sein, der Typostammtisch ist auf jeden fall demokratisch: Gut einen Monat nach der Veranstaltung sind nun alle Stimmzettel ausgezählt … Herzlichen Glückwunsch, Version 3! Dieser Ausgang bestätigt die Formgebung, die Lucas in die Light-Schnitte bereits eingebaut hatte. Auch mal schön, diese seltene gestalterische Einigkeit.