11.04.2024: A Tribute to FontShop

Zeiten ändern sich. Zeiten ändern uns. Zeit wird’s für gemeinsame Erinnerungen und Reflektion!

1989 von Joan und Erik Spiekermann gegründet, hat das „Versandhaus für digitalisierte Schriften“ (lt. Wikipedia) viele Menschen begleitet und inspiriert. Viele von euch haben FontShop mit aufgebaut und weiterentwickelt. Ein Stück Berliner Schriftgeschichte also, das wir mit euch in einer Mischung aus Gesprächsrunde, Mitarbeiter·innen- bzw. Ehemaligentreff und Feierabendbier würdigen möchten. Wem FontShop nichts (mehr) sagt, ist herzlich eingeladen, sich ein Bild zu machen.

Zur Podiumsdiskussion, moderiert von Jürgen Siebert (ehem. Leiter Marketing und Vorstand FSD*), treffen sich Erik Spiekermann (Gründer und ehem. Gesellschafter), Petra Weitz (ehem. Managing Director FSI) und Ivo Gabrowitsch (ehem. Marketing Director FSI).

Ihr seid herzlich eingeladen, FontShop-Merch und Publikationen zur Ansicht und zum Tausch mitzubringen. Zur Einstimmung in das Thema gibt es lesenswerte Artikel u.a. auf Jürgen Sieberts Fontblog und Sonja Knechts Seite Txet.

Wann? Donnerstag, den 11. April, Beginn schon 18:30 Uhr, Einlass 18:00; Eintritt frei
Wo? Medienhaus UdK Berlin, Grunewaldstraße 2–5, 10823 Berlin-Schöneberg. Wir sind in der Aula im 1. Stock.

Bis dahin,
euer Typostammtisch-Team


Rückblick: Den Nachbericht des 110. Typostammtischs mit Mark van Leeuwen und Savva Terentyev könnt ihr hier lesen.

Am 9. April ab 18:00 Uhr stellen sich in der Reihe Indie Stabi in der Staatsbibliothek die Verlage PULP Master und Hirnkost vor. Das Buchstabenmuseum startet ab 9. Mai und bis Oktober jeweils donnerstags die Reihe Type & Wine – Your Type Moment After Work. Es wird Austausch und kurze Vorträge im eigenen Vorgarten geben, sowie Getränke und auch Beschäftigungsmöglichkeiten für Kinder. Kurzfristig informieren könnt ihr euch via Instagram. Bis auf weiteres läuft im Kunstgewerbemuseum die Reihe More than Human – Design nach dem Anthropozän. Laut Webseite eine „diskursive Plattform mit Pop-up-Ausstellungen, Vorträgen (…), um sich mit dem komplexen Konzept More than Human aus der Perspektive der Gestaltungsdisziplinen, insbesondere des Designs, auseinanderzusetzen.” Last but not least: Tickets für Berlin Letters vom 5. bis 7. Juli sind nun erhältlich.


Die Titelzeile ist in der Scala von Martin Majoor gesetzt, einer FontShop-Schrift der ersten Stunde, vorgeschlagen von unseren Podiumsdiskussionsgästen.

* FSD: FontShop Deutschland; FSI: FontShop International; Fontshop ist eine Marke der Monotype Imaging Inc.

Nachbericht 110. Typostammtisch: Mark van Leeuwen & Savva Terentyev

Zunächst Neues aus der Kategorie „Speaker·innenessen“. Diesmal kredenzt Küchenchef Lukas Horn Hutspot (die holländische Version von Kartoffelbrei) mit kellereigenen Möhren der Eltern. Saulecker, pardon, und auch noch s… sehr passend, weil unser erster Sprecher Mark mit „van Leeuwen“ einen erkennbar holländischen Nachnamen hat. Savva Terentyev, unserem zweiten Sprecher, schmeckt’s ebenfalls. Uns sowieso – kann also losgehen!

Lukas ist heute Abend Multi-Funktionator. Neben der Rolle am Herd ist er gemeinsam mit einem unserer neuen Gesichter im Team, Samira Rehmert, Tandemverantwortlicher in Sachen Planung. Da Samira leider krank ist, moderiert Lukas. Zunächst kündigt er seinen Ex-Mitstudent an der FH Potsdam an. „Ich war neidisch, weil er so viel kann“, gesteht Lukas. Herzlich Willkommen beim Typostammtisch, Mark van Leeuwen!

Mark ist Gestalter mit italienisch-holländischen Wurzeln, der vor allem auf Instagram sehr sichtbar ist. Seinen Vortrag gliedert er in Intersektionen der Bereiche seiner Arbeit: Lettering, Type Design, Client Work, Free Work, Graphic Design. Stellt euch, mangels Foto, diese 5 Begriffe umrundet mit organisch geformten Bubbles vor, die sich überschneiden. 3 oben, 2 unten. Ups, wie durch Zufall blitzt auf der nächsten Folie das Logo der olympischen Ringe auf. Lustig. Aber diese schlau geplante Referenz deutet schon die Substanz der Arbeiten an, die Mark uns im Folgenden zeigt.

Los geht’s mit der Überschneidung der Bereiche Free Work und Graphic Design. „Das war meine Mosaik-Phase“, meint Mark trocken. Wir sehen Grafiken, bei denen jedes einzelne Mosaikteil einzeln in ProCreate arrangiert, dann in Adobe Photoshop coloriert wurde. Nachdem er diese freie Arbeit auf Instagram gezeigt habe, wurde genau dieser Stil für eine Buchcover-Reihe angefragt. „Es war eine Höllenarbeit“, kommentiert Mark. Das Projekt dauerte insgesamt 3 Jahre, zum Glück nahm die Buchstabenanzahl der Buchtitel aber ab (denn selbstverständlich sind auch die Buchstaben handgemacht).

Eins führt zum anderen: Freie Arbeit führt zu …
… Auftragsarbeit – führt zu …
… mehr Auftragsarbeit.

Bei der folgenden Intersektion aus Lettering und Type Design entstanden aus Letterings ganze Schriften. Mark zeigt hier die Oakley, eine organisch-warme Hommage an die 60er und 70er Jahre, und die Aespira, eine grazile Kontrastreiche mit einer lebhaften Italic inklusive Swash Caps.

Die nächste Schriftfamilie Cortese wiederum ist ein Beispiel für die Überschneidung der Bereiche Type Design und Client Work. „Die Cortese ist mein erstes Revival“, sagt Mark. Nämlich das der Cortez, einer Letraset-Schrift von Philip Kelly, entstanden 1977. Die Neuinterpretation kommt mit vielen Schnitten, Alternates und ist im großen Stil geeignet für Heavy-Metal-Anwendungen jeder Art. Man kann sich dahingehend auch mal auf Marks Webseite umsehen, das macht richtig Spaß! 🤘

Weiter geht’s mit dem Bereich Graphic Design (Überschneidung vergessen!) und dem Projekt „Read my Lips“, entstanden in Zusammenarbeit mit einem Kommilitonen an der FH Potsdam. Gemeinsam wollten sie Zwischentöne der non-verbalen Kommunikation sichtbar machen. Was geht verloren, wenn wir nicht live miteinander sprechen? Naheliegende Schlussfolgerung: Die Bewegung des Mundes. Also haben die beiden Lippenbewegungen beim Sprechen abgefilmt und vermessen. Ja, vermessen. Wir sehen Parameter in Tabellen – „3 Semester sahen so aus“, sagt Mark. Die Daten übertrugen sie dann auf die entsprechenden Laute in der Schrift, was dazu führt, dass Laute, bei denen der Mund eher offen ist (wie a, e, i, d), in der entstehenden Schrift dünner sind. Laute, die mit eher geschlossenem Mund gebildet werden, erscheinen dagegen fetter und schwärzer. Da natürlich verschiedene Münder vermessen wurden, ist ein Variable Font entstanden, der kontinuierlich „wabert“. Ziel sei es, so Mark, eine Anwendung zu bauen, die diesen Prozess individuell umsetzen kann. Jeder Mund bekäme eine eigene Schrift. Eine große Aufgabe und ein zaghafter Aufruf ins Publikum, sich mit ihm kurzzuschließen, wenn da eine Zusammenarbeit möglich ist. Ansonsten schließt Mark das Thema lapidar: „Es hat schon einen Grund, warum wir jetzt anderthalb Jahre nicht an dem Projekt gearbeitet haben …“

Zeit für Fragen (Wie viele Arbeitsstunden stecken in dem Mosaik-Covern? Inhaltliche Herleitung Mosaik-Cover? Welcher Verlag? Nachfragen zu einem 3D-Chromeoptik-Cover, das Mark gezeigt hat …). Fazit: Wir sind alle neidisch, nicht nur Lukas, auf so tolle und vielfältige Arbeiten schon mit Mitte Zwanzig. Vielen Dank und viel Respekt, Mark!

After a short break (which we can use to thank Luc(as) de Groot and his team to once again host a Typostammtisch in their nice office), we welcome our second speaker, publisher of musical editions and jazz pianist Savva Terentyev – and we switch to English because Savva does so, too. His lecture will be all about musical typesetting, which he prefers to do manually. “If you have read this, you are acquainted with 50% of literature ever published on the design of music typefaces”, he comments one of the first slides containing some basic information on musical notation. “… Well, maybe 30%.” Wow. At least for the author of this text (who has nothing but little school-based knowledge on the topic, contrary to a lot of people in the audience) it seeeems to be a bit more complicated looking at the given examples. So let’s double knowledge!

In the following, Savva gives us an overview of the literature landscape concerning musical notation. Question to the audience: “When do you think the first English-language book on the production of printed music came out?” We have a guess at 1500. Another one says “If you are asking like that I’d say 1920”. Bingo! It was not earlier than 1923. Considering the fact that one of the first English-language books on printed matter was published 340 years ago (Mechanick Exercises or the Doctrine of Handy-works by Joseph Moxon, 1684), this is quite late. Savva says that a general early œuvre would be very helpful, similar to the Manual of Typography by Giambattista Bodoni (1818). He also takes Trajan’s column as reference for the Latin script: something it started with, something everybody can relate to. Basically, Savva is looking for historical roots of his deep passion. Indeed, in a book shelf picture we see that the respective section in his shelf is rather sparsely filled. To our advantage, he’s able to bring some of these treasures with him tonight (find a comprehensive literature list on Savva’s Patreon page). After the talk, everybody is invited to take a look at the books and Savva’s own publications.

Picture: Savva Terentyev

Another good source is a collection of historical specimen provided by Stephen Coles and Caren Litherland on Typographica. You can find lovely musical engraving in a lot of these type specimens. Savva states that when listed chronologically, 12 out of 15 of the earliest specimens (i.e. from American Type Founders) contain examples for music type. This is kind of a discrepancy on the rather sparse literature covering the topic. The routine of putting musical notation in type specimens stopped around 1905.

Then, Savva explains the logic of a music engraver. The lines were carved, whereas the notes and signs were punched. Today, type designers design notes and the lines are done by the software which rather leads to conflicts from Savva’s perspective. Now and then, he walks over to the chalkboard to explain some basics (the author wanted to double knowledge, remember?!). Notes consist of a notehead, a steam and a beam which can have different directions. He also zooms into musical notation and shows us especially designed notes with a smooth joint between stem and notehead (audience is like: “Ahhhh!“).

There’s a question from the crowd. “Can you please show your work?” – Of course. He shows A transcription of Samsara, a piano piece in two parts composed by Tigran Hamasyan (yes, the title is that long) and explains that you can set notes more or less free but you always have to keep an eye on the page turn. In text setting, separating in the middle of a word or a sentence is mostly not a problem but in musical setting, you have to turn the page when the musician has the time to turn the page. Savva also shows an example where a comprehensive piece was limited to 8 pages which led to very tight spacing between the notes – being his preferred style anyway.

Following up on this, another question from the audience: “What is readability when it comes to notes? Which are the parameters?” A very lively discussion with professional musicians and people from the music notation scene follows, essentially centering around the question whether or not to use music notation software for projects or set the notes manually. Amongst others, we welcome back Werner J. Wolff, who talked at Typostammtisch about this very topic back in 2013. It’s great to see that Typostammtisch is an opportunity for professional exchange now as before, that’s what is was introduced for. We really hope that protagonists can foster this exchange beyond Typostammtisch.

By the way, it would be interesting to see a composer putting this evening’s mood into a piece of music and then different approaches in setting its transcription.

It was a remarkable evening. THANK YOU to everybody involved.

Photos unless stated otherwise: Luc(as) de Groot

Nachbericht 108. Typostammtisch: Verlagsabend

Books, Books, Baby! Der erste Verlagsabend in der an tollen Abenden nicht eben armen Geschichte des Typostammtischs Berlin war besonders beglückend. Im Vorfeld hatten wir Kontakt zu einigen Independent-Verlagen, vornehmlich Literaturverlagen, und vorrangig ansässig in Berlin. Nun durften wir namhafte Verleger·innen und eine Künstlerin-Grafikdesignerin live begrüßen: Am Hightech-Overhead-Projektor bzw. unserer Überkopf-Kamera blätterten sie sich und ihre Bücher auf (Grüße aus der Wortspielhölle). Dieserart bekamen wir fundiert Einblick in ihre typo-/grafische Arbeit, naturgemäß immer verbunden mit dem Inhalt. Form follows Content, denn die UX von Büchern ist Lesen. Anschauen und anfassen natürlich auch. Oft kamen die Gesamtmaterialitäten ins Spiel. Aber der Reihe nach. 

Bei Käsewürfeln und Kürbissuppe vorab – ihr wisst, „Speaker·innen·dinner“ wird bei uns groß und immer mal wieder anders geschrieben – wurden wir warm miteinander. Im Gespräch kommen wir auf Lyrik-Wrestling, Schachboxen und die Surfpoeten. Büchertisch belegen, Porträtfotos machen, und los. Der Saal füllt sich. 

In Abwesenheit: Trottoir Noir und Ritter Verlag

Moderatorin Sonja Knecht macht selbst den Auftakt, denn Marcel Raabe von Trottoir Noir, Leipzig, in Personalunion Verleger und Autor, liest zeitgleich in Erfurt. Er hatte vorab Bücher und Verlagsmaterial geschickt – ebenso wie Franziska Füchsl, Gestalterin des bei ihm 2021 erschienenen, von Clemens Böckmann herausgegebenen Gedichtbandes Alvaro Maderholz, Springer_Innen („ein kleines Juwel abseits des Bekannten“, so ein Rezensent der FAZ; hier geht es zur Rezensionsnotiz beim Perlentaucher). Vorab kam Franziska Füchsl zum Kennenlernen, dann wurde sie krank – hatte uns aber als persönliche Gastgabe, denn auch sie ist Autorin, ihr Buch Tagwan mitgebracht. Es erschien im Ritter Verlag, Klagenfurt 2020. Hier eine Rezension in der NZZ.

Damit all diese Liebevolligkeit nicht verpufft, stellt Sonja die beiden Bücher dennoch vor, oder anders: schwärmt hemmungslos für die Inhalte und überhaupt für die Tatsache ihrer Herausgabe (vom Maderholz-Bändchen) sowie für den sprachlichen Formwillen, ergo Gesamtgestaltung (Tagwan von Füchsl). Bei Springer_Innen geht es um die Poesie des Skispringens, von einem, der selbst Skispringer war. Der Band ist garniert mit der berührenden Geschichte von Eddie the Eagle, einer ebenso solitären Gestalt wie Autor Alvaro Maderholz; das Vorsatzpapier mit Zeichnungen einer DDR-Briefmarken-Sonderedition zum Skispringen. Sieht toll aus. „Sieht komisch aus mit der Hand. Vor allem, wenn sie so zittert“, kommentiert Sonja den Bildausschnitt der Überkopf-Kamera, die Buch und Hand an die Wand projiziert. Die Aufregung. Schaut euch den schönen Band und überhaupt das Programm von Marcel Raabe, Trottoir Noir an; er operiert unter dem schönen Stichwort Aufzeichnungssysteme.

Für den kompakten, schlicht in Grau gepackten Gedichtband nutzt Gestalterin Franziska Füchsl die Schriften Livory von Hannes von Döhren und Livius Dietzel sowie Moncler Ultra Light von David Súid. Bei ihrem eigenen Buch Tagwan ist selbst die Anmerkung zur Typografie lyrisch – Füchsl nutzt eine Sprache, die mit regionalen Eigenheiten und Dialektwörtern spielt, und spricht etwa von den „gloschenen Unregelmäßigkeiten“ der Centaur, entworfen von Bruce Rogers nach Schriften von Nicolas Jenson aus dem 15. Jahrhundert und erstmals verwendet 1915 für Maurice de Guérins Text Le Centaur. Große Leseempfehlung für alle, die eine experimentelle, sinnliche, sehr körperliche Sprache lieben oder kennenlernen möchten: Es handelt sich bei Tagwan auf den ersten Eindruck um einen verrätselt wirkenden Prosatext voller Bilder und Sinneseindrücke, dessen einzelne Episoden sich im Weiterlesen zu einem biografischen Bericht zusammenfügen. Füchsl beschreibt Wahrnehmungen, die uns Handlungen und Ereignisse erahnen und an eigene Erlebnisse erinnern lassen: Tagwan von Franziska Füchsl. 

Dr. Rike Felka: Verlag Brinkmann + Bose

Zusammen mit Erich Brinkmann leitet Rike Felka den Verlag Brinkmann + Bose. Er ist für die Gestaltung verantwortlich, sie für Lektorat, Öffentlichkeitsarbeit, Übersetzung. Gemeinsam geben Brinkmann und Felka interdisziplinäre Theoriebücher (vornehmlich der Philosophie, Literatur-, Medien- und Filmwissenschaft) heraus. Was hier so trocken klingt, ist Legende – fortgeschrittene Leser·innen und Typografiebegeisterte erinnern sich. Der Berliner Verlag wurde 1980 von Günter Karl Bose und Erich Brinkmann gegründet und 15 Jahre gemeinsam geführt. Bose ging 1995 als Professor für Typografie an die Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. 1998 stieg Rike Felka ein. Zum 30-jährigen Bestehen von Brinkmann + Bose gab es 2011/12 die Ausstellung Double Intensity im Museum für angewandte Kunst in Frankfurt am Main und ein gleichnamiges Begleitbuch, 32,5 × 23 cm, 169 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen aus der Geschichte des Verlages. Im Interview-Bericht in von hundert #33, FREIHEIT SPEZIAL (S. 6–10) von September 2019 spricht Rike Felka über die Wirkung von Büchern, ihre Haltung als Verlegerin und die abenteuerlichen, freien, in jeder Hinsicht selbst gestalteten Anfänge des Verlages in den 1980er Jahren im West-Berliner Mauer-Kreuzberg.

Rike Felka stellt uns zwei Brinkmann + Bose Bücher vor. Als erstes Das Telefonbuch der amerikanischen Autorin Avital Ronell, genauer gesagt, den Buchrücken. Dieser sei „auch dann noch sichtbar, wenn das Buch im Regal verschwindet“ und zeige symbolisch Kabel, Sender, Empfänger, Übertragung, Telefontechnik – die Themen des Buches. Dreht man das Buch um 180 Grad, erkennt man auch gelbe Seiten. Für Nachgeborene: Die Gelben Seiten, das war ein großes, sehr dickes, auf dünnes Papier gedrucktes Buch, herausgegeben von der Deutschen Post, dann der Deutschen Telekom, parallel zum Telefonbuch. Die Gelben Seiten enthielten in kleiner Schrift spaltenweise die Telefonnummern und sonstigen Kontaktangaben sowie Werbeanzeigen von gewerblichen Anbietern (das Telefonbuch die privaten). Zurück zum Telefonbuch von Brinkmann + Bose. Zum Einsatz kamen hier die Schriften Univers Extended von Adrian Frutiger, Dynamo von K. Sommer und Minimum von Pierre di Sciullo. Die breitlaufende Univers auf den Innenseiten wirke „wie an einem Faden aufgezogen“, so Rike Felka, und lässt damit erneut eine Telefonschnur assoziieren. Fettdrucke und Einschübe von kontrastierenden Schriftarten zeigten Störungen, Wackelkontakte, ein weiterer Verweis auf den Konnex von Form und Inhalt; das Cover erinnere an Industriedesign. Das Vorsatzpapier thematisiert das Erdtelefon von Joseph Beuys, ein Kunstprojekt von 1967. Kein Wunder, dass Das Telefonbuch, von Rike Felka selbst „fulminant übersetzt“, wie es in einer Rezensionsnotiz heißt, in seinem Erscheinungsjahr 2001 zu einem der Schönsten Deutschen Bücher gekürt wurde. 

Als zweites Buch von Brinkmann + Bose sehen wir Dem Archiv verschrieben von Jacques Derrida. Wieder der Buchrücken: Die Trajan von Carol Twombly bildet darauf eine Säule, indem sie umlaufend in den Falz übergeht. Im Regal wird diese Säule wieder fragmentiert, da man nicht alles von und auf dem Titel sieht. Als weitere Schrift kommt bei diesem Werk, einer „Abhandlung des Archivbegriffs für die Handtasche“, die Antique Olive von Roger Excoffon zum Einsatz. Auf den Innenseiten stehen verschachtelte Insert-Kästchen symbolisch für ineinander verschachtelte Gedanken und ihre Ausführungen bzw. bieten dafür mehrere Textebenen. An dieser Stelle gibt es Rückfragen aus dem Publikum zu den Abläufen im Verlag: Wie die Kooperation zwischen Autor· und Gestalter·in funktioniere? Autor Derrida habe ausgesprochen positiv reagiert, berichtet Verlegerin Felka, sonst gab es in diesem Fall keine großen Abstimmungen. Positiv wurde auch befunden, dass die Titelseite nicht klassisch den Autor in den Vordergrund stellt, sondern die Elemente dort fast verschwindend klein seien, dafür die Konzentration auf den Buchrücken als Gestaltungsmittel. Eine sehr konzeptionelle, fast schon experimentelle Ausreizung der gestalterischen Mittel. Wir sind beeindruckt, auch von der stilistisch stimmigen, sorgfältigen Vortragsweise von Rike Felka. Ganz herzlichen Dank, liebe Rike!

Marion Wörle für die Reihe Rohstoff von MSB

Marion Wörle gestaltet für Matthes & Seitz Berlin deren Verlagsprojekt, so nennen sie die Reihe, RohstoffAußerdem macht Marion Musik – und hat Jetlag. Wir sind ihr sehr dankbar, dass sie trotz langem Transatlantikflug direkt bei uns gelandet ist! Man merkt es ihr übrigens im Vortrag nicht an. Hellwach präsentiert sie uns die „Rohstoffe“ und zeigt uns vier Bücher aus der Reihe.

Marion Wörles Arbeit bezieht sich auf die Gestaltung des Umschlages mit seinen vier Seiten, also U1 bis U4, vorne außen, vorne innen, hinten innen und hinten außen. „Es ist viel los“ dabei, sagt sie. Von der Produktion her soll es so günstig wie möglich sein, damit bei dieser preisgünstig gehaltenen Buchreihe keine Hemmschwelle für den Kauf besteht. Das bedeutet nicht, dass es gestalterisch anspruchslos oder ganz einfach und einheitlich ist. Den Buchrücken zieren Zitate nach Wahl der Autor·innen. Das Rohstoff-Logo in der rechten unteren Ecke wird immer dort, an gleicher Stelle eingesetzt, aber oft abgewandelt: als Binärcode (bei dem gezeigten Beispiel), in Durchsichtigkeit. Es entsteht etwas Scharfkantiges, eine optische „Scherbe“. So dass es „richtig wehtut, wenn man da reintritt“, sagt Marion. Auch die Manschette sitze immer an gleicher Stelle. Es gäbe aber kein Zentrum auf dem Titel wie bei klassischer Cover-Gestaltung, sondern umlaufende, abstrakte Bildwelten, die Marion für den jeweiligen Titel „komponiert“ – die Grafikerin und Musikerin ist seit über 20 Jahren in beiden Welten aktiv; das geht offenbar bestens zusammen.

Aus dem Publikum kommt eine zweifelnde Rückfrage zur separaten Gestaltung der Innenseiten und dem dadurch gegebenen Kontrast zur Gestaltung des Umschlags, zu dieser Unabhängigkeit der Gewerke. Marion Wörle bestätigt: Je größer der Verlag, desto größer die Arbeitsteilung; der Innenteil und wie er gesetzt wird sei hier bei der Reihe Rohstoff „Standard“. Es ergibt sich eine kleine Diskussion: Ist es schade, dass die Titelgestaltung im Innentitel nicht aufgegriffen wird, oder ergibt gerade diese Teilnormierung gestalterische Flexibilität?

Als zweites Buch zeigt Marion Wörle uns aus dem Dachverlag Matthes + Seitz Berlin Das Gefühl zu denken von Veronika Reichl, eine Neuerscheinung von diesem Jahr. Hier eine Rezension. Die Autorin thematisiert in ihren Erzählungen (basierend auf 50 Interviews) die Emotionen, die wir beim Lesen philosophischer Texte durchlaufen, und hat sich bereits in ihrer Promotion mit der visuellen Darstellbarkeit wissenschaftlicher Texte befasst. Hier spricht sie unter anderem von „Gedankenfalten“. Das wird typografisch mit zwei Schriften visualisiert, die sich ineinander falten und verschränken, erklärt uns Marion.

Wie ihre Zusammenarbeit mit MSB entstanden sei, fragt jemand aus dem Publikum. Dazu kam es über eine Autorin, die sich wünschte, dass Marion für sie das Buchcover gestalte. Es folgte die Gestaltung weiterer Umschläge, und erst dann fingen sie an, über Rohstoffe nachzudenken, so Marion. „Wir haben etwa ein Jahr lang Ideen gesammelt und überlegt, wie wir das Ganze umsetzen.“ Die Gestaltung der Reihe wirke aufgrund des klaren Rahmens vielleicht einfach und einheitlich, aber das täusche, sie gestalte zum Teil bis zu 40 Entwürfe pro Cover. Uff. Später sagt sie, der Austausch mit einer Community und noch dazu einer mal ganz anderen hier beim Typostammtisch habe ihr viel Spaß gemacht, denn beim Gestalten sei sie häufig ganz allein („nur mein Computer und ich“). Ansonsten gäbe es durchaus viel Teamwork im Verlag, aber als Freie habe sie daran ja keinen Anteil. Gern und vielen Dank auch an dich, liebe Marion!

Andrea Schmidt und Tillmann Severin: Verlagshaus Berlin

Andrea Schmidt (Gestalterin) und Tillmann Severin (Lektorat, Öffentlichkeitsarbeit, Übersetzung) stellen das Verlagshaus Berlin und sich selbst als zwei Drittel der Verlagsleitung vor; der dritte im Bunde ist Jo Frank. Moderatorin Sonja an dieser Stelle zum Publikum: „Ihr habt schon gemerkt, dass ich das Stichwort „Kult“ heute oft benutze. Das spare ich mir jetzt, aber …“ Das Verlagshaus Berlin agiert unter dem Motto „Poetisiert euch“ für Lyrik und Illustration – „keine Rangfolge, beides ist uns gleich wichtig“. Erst haben sie eine Zeitschrift für Lyrik gemacht, dann Bücher. Und ein sehr starkes Branding. Zusammen mit liebevoll moderierten Lesungen und weiteren Aktivitäten sorgen sie für große Nähe zwischen ihren Autor·innen, dem Lesepublikum – und sich selbst.

Andrea und Tillmann stellen uns drei Bücher vor, das heißt, mehrere, aber damit drei ihrer Reihen. Als erstes Livestream und Leichen aus ihrer Edition Belletristik: Gedichte von Martin Piekar und Illustrationen von Nina Kaun. Hier geht es direkt zum Buch, von dem sie sagen, dass darin drei Textebenen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) typografisch in verschiedenen Schriftarten bzw. Schriftgrößen dargestellt sind, und zwar in der Epika von Rostislav Vaněk, der Trans Sans von Matyáš Machat und in der Input Serif Condensed von David Jonathan Ross. Dann gab es da noch eine verschlungene Schrift mit vielen Alternates, die uns leider entglitten ist …

Aus ihrer Edition Zwanzig für neue Stimmen (Erstveröffentlichungen) in der Lyrik zeigen uns Andrea und Tillmann die Bände RE: RE: AW: LIEBE von Kevin Junk (erschienen 2022) und BARBARA von Barbara Juch (2023). Die farblich und typografisch klar und prägnant gestalteten Hefte haben einheitlich 48 Seiten („Beschränkung ist gut bei einer Gedichtauswahl“) und eine farblich passende Fadenheftung. Stichwort Fadenheftung: Die Fadenheftung sei ein „Flaschenhals in der Produktion“, kommt im Gespräch mit dem Publikum, aber vor allem den weiteren Verlagsmenschen heraus. Der Beruf des Fadenbinders sterbe aus, die Druckereien halten ihre Kontakte geheim. – Sehr schön diese Szene im gemeinsamen Vortrag: Tillmann Severin schwärmt seine Kollegin, Gestalterin Andrea Schmidt hemmungslos an und begeistert sich dafür, wie sie die Doppelpunkte im Titel von RE: … gekippt und mit einem i-Punkt zu den drei Punkten einer Ellipse zusammengefügt hat, dem Zeichen, das man sieht, wenn am anderen Ende der digitalen Flirt-Leitung jemand gerade schreibt … Yet again, Inhalt und Form. Typografische Form. Und Innenform. Auf dem Cover von BARBARA sehen wir die Schrift Zesta, gestaltet von Jéremie Hornus, Julie Soudannne und Alisa Nowak, deren herausgelöste Punzen innen als Gestaltungsmittel eingesetzt werden, „Ausdruck der Selbstfindung oder Selbstzersetzung: Was bleibt von mir übrig?“ Was hier zurückbleibt, ist der höchst positive Eindruck dieser schlichten, schönen Gedichtbände (zum sehr fairen Preis übrigens auch). 

Als dritte Reihe stellen Andrea Schmidt und Tillmann Severin ihre Edition Poeticon vor, eine Lieblingsreihe der Autorin dieser Zeilen. Die kleinen in Graupappe gehüllten Bändchen sind eine thematische Begriffssammlung zum Einstieg in oder zur Begleitung von Lyriklektüre – oder einfach so, zur Erbauung. Thematisiert werden Begriffe, die im zeitgenössischen gesellschaftlichen, gesellschaftspolitischen Diskurs, aber vor allem in der Poetologie mindestens der Autor·innen der jeweiligen Essays eine tragende Rolle spielen. Sie mögen den Zugang zu Lyrik erleichtern, aber auch dem eigenen Denken, Fühlen, kreativen Arbeiten neue Zugänge oder Anregungen geben: durch ihre Unmittelbarkeit, Nahbarkeit vor allem, Nachvollziehbarkeit. Manche der Bände klingen wie schrittweises, schriftliches Denken, wie laut gedacht, live. Im Fließtext sehen wir die Novel, in den Fußnoten Novel Sans Pro von Christoph Dunst, auf dem Cover die Versalien der wie in Stempeldruck fleckig wirkenden Vinyl von Brad Demarea. Das Papier ist von Fedrigoni. Gedruckt wird bei Gallery Print in Berlin. Wunderbare Arbeit, liebe Andrea, lieber Tillmann! Danke für die Einblicke.

Übrigens sind auch sie mit dem Verlagshaus Berlin mehrfach preisgekrönt, unter anderem mit dem Deutschen Verlagspreis 19, 20 und 22, und zu „100% INDEPENDENT“. 

So. Damit müsstet ihr reihenweise Anregungen für eure Lektüre, für besondere bibliophile Weihnachtsgeschenke, für neue typografische Wege und das Gestalten von Büchern bekommen haben.   

Vielen Dank unseren Vortragenden für alles, was ihr geteilt habt! Ihr habt uns einen wunderbaren Abend mit wertvollen Einblicken in eure Arbeit bereitet. Ihr habt für einen sehr schönen Büchertisch, Gesprächs- und Lesestoff gesorgt. Viel Liebe und viel Glück weiterhin für euren aufopfernden Einsatz für gute und besonders schöne Bücher.

Lieben Dank für die Vorgespräche auch an die Verlagsmenschen, die jetzt nicht dabei sein konnten. Auf ein nächstes Mal! 

26.10.2023: Verlagsabend

Wie kommen die Buchstaben in die Bücher? Wie finden Schriften zu Verlagen, und umgekehrt? Eine Premiere steht ins Haus: Erstmals laden wir beim Typostammtisch zum Verlagsabend.

Die Inhaber·innen, Herausgeber·innen, Autor·innen oder Gestalter·innen (oftmals sind sie all das in Personalunion) illustrer, überwiegend in Berlin ansässiger Literaturverlage erläutern ihre typo-/grafischen Entscheidungen. Dafür bringen sie beispielhaft Bücher mit, legen sie auf den Overhead-Projektor, blättern mit uns durch die Seiten und stellen sich dem Gespräch. Wir freuen uns auf persönliche Begegnungen mit und rare Einblicke in die Arbeit von – Freudenfeuer, Trommelwirbel, großer Tusch: Brinkmann + Bose, Rohstoff, Trottoir Noir, Verbrecher Verlag und Verlagshaus Berlin.

Wann? Donnerstag, 26. Oktober 2023, 19 Uhr
Wo? Eisenacher Straße 56, im Studio von LucasFonts, 2. Hinterhof, 10823 Berlin-Schöneberg

Bis dahin, euer
Typostammtisch-Team


Typostammtische verpasst? Wer zum Beispiel nachschauen möchte, wie Bücher gebunden oder schriftbezogene Bücher zauberhaft präsentiert werden – eines davon zählt inzwischen zu den diesjährigen 25. schönsten deutschen Büchern, Glückwunsch, liebe Jenna! – wird in unserem Archiv fündig. Und, Ausblick, freut euch aufs TypostammQuiz im November sowie auf, Arbeitstitel, A Tribute to Fontshop. Den planen wir für Anfang 2024. Sammelt also gern schon Spenden für den Gabentisch (Quiz) bzw. Erinnerungen (Fontshop); wir freuen uns bei beidem auf regen Austausch!


Bücher und Buchstaben in rauen Mengen gibt es vom 18. bis 22. Oktober bei der Frankfurter Buchmesse. Das Deutsche Historische Museum, immer einen Besuch wert, zeigt in der Wolf-Biermann-Ausstellung Plakate und weitere Druckerzeugnisse der Zeit. Lesen im Vorbeigehen: Ariane Spanier bespielt den Bauzaun für den Neubau am Kulturforum mit Inschriften. Wenige Schritte weiter, bei Hacking Gutenberg, the-gallery-formally-known-as-P98a könnt ihr Mitglied werden, Rabatt bekommen, Weihnachtsgeschenke kaufen. Behaltet weiterhin die Verlagsreihe Indie Stabi im Blick, nächste Termine dort (monatlich am ersten Dienstag) wären 7. November und 5. Dezember. Bitte unbedingt auch die Typoclub-Veranstaltungen an der UdK Berlin vormerken; dort sind im Wintersemester Typografinnen zu Gast: Yana Vekshyna am 26. Oktober, Petra Rüth am 2. November, Yimeng Wu am 9. November und Golnar Kat Ramahni am 16. November.


Die Titelzeile ist in Elma Trio von Philipp Neumeyer gesetzt, erschienen bei den TypeMates. Das Bücherregalbild ist von Sonja Knecht; darin ebenfalls die Elma Trio.

Nachbericht 105. Typostammtisch: Hendrik Weber & Aljoscha Höhborn

Vorbei an neonroten Tape-Wegweisern durch die Hinterhöfe, die Treppen vierer Stockwerke hinauf, durch den dunklen Schallschutzverkleidungstunnel und hinein in den Urlaub – so zumindest fühlte sich der Abend für uns als Typostammtisch-Team an. Denn die gastgebende Agentur (auch ein Team, KMS TEAM nämlich) hat sich mächtig ins Zeug gelegt, um den ca. 80 Anwesenden trotz angesagtem Gewitter einen tollen Abend zu bereiten. Danke den beiden Sprechern, sowie Wolfram, Anna, Annette, Patrick und allen Beteiligten!

Viel Engagement für einen tollen Abend: Danke, KMS TEAM!

Nach einigen Soundproblemchen (wär ja auch sonst langweilig) erzählt uns Hendrik Weber, Type Director bei KMS TEAM, von Minimalismus in der Corporate Typografie. Hendrik erläutert die Konventionen, die Schrift ausmachen und von anderen Design-Disziplinen unterscheiden. Semantik also: Ein a sei schließlich kein Schuh und keine Karotte. Seine These: Je komplexer die Marke, desto einfacher muss die Corporate-Schrift sein. Bei Schrift im Markenkontext gehe es darum, Raum zu schaffen, sodass andere Disziplinen zur Geltung kommen können. 

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22.06.23: Hendrik Weber & Aljoscha Höhborn


Wie Minimalismus und Animation zusammengehen und welche Schnittmengen beides in Bezug auf Schriften im Branding haben kann, erörtern Hendrik Weber und Aljoscha Höhborn in unserer Juni-Ausgabe. 

In den brandneuen Berliner Räumen von KMS Team spricht Hendrik Weber, dort als Type Director verantwortlich, über Minimalismus in der Corporate Typografie und was diese, bei aller Kritik an onmipräsenten geometrischen Sans Serifs, imstande ist für eine Marke zu leisten. Der zweite Sprecher des Abends, Aljoscha Höhborn, ist im Bewegtbild und der Animation von eben jenen Markenschriften zugange. Auch seine Arbeit wird uns eine wertvolle Perspektive auf das Thema Schrift und Marke aufzeigen.

Wir freuen uns auf einen regen Austausch mit euch bei dem einen oder anderen Kaltgetränk. Kommet zahlreich, Platz ist genug!

Wann? Donnerstag, 22. Juni 2023, 19 Uhr
Wo? KMS Team, Alt-Moabit 73/73A, Hof 3, 4. Etage, 10555 Berlin

Bis dahin, wir freuen uns!
Typostammtisch-Team


Wer sie bei der Type-Masters Ausstellung im Mai verpasst hat (Nachbericht folgt), kann die Abschlussarbeiten aus Den Haag jetzt auch online anschauen. Einen verspäteten Nachbericht zum Typostammtisch #102, der Type Crit Session in der p98a, findet ihr hier.

Visuelle Umsetzungen von Audioaufnahmen zeigt die Ausstellung LAUTE PLAKATE am 9. Juni im about_bookshop. Synästhetisch spannend! Das A–Z presents lädt am 15. Juni zu einer „Show and Tell“-Session ein. Unter dem Titel Sarah Boris: Exquisite Curiosities könnt ihr physische Objekte und Kuriositäten teilen, die ihr liebt – Bücher oder Buchstaben vielleicht? Die jährliche Werkschau des Fachbereichs Kommunikationsdesign an der HTW findet am 21. und 22. Juli statt. In der Kunsthochschule Weißensee gibt es am 22. und 23. Juli ebenfalls einen Rundgang. Das Blindenmuseum ist momentan wegen barrierefreien Umbaus geschlossen. Die Ausstellung zur Braille-Schrift ist aber teilweise auch virtuell zu durchwandern. Ebenfalls umgebaut wird bekanntlich das Bauhaus-Archiv. Über die Pläne und den Stand der Arbeiten kann man sich im Obergeschoss und mit Blick von der Dachterrasse informieren. Bei der Überbrückung hilft außerdem das Temporary Bauhaus – vor allem das infinity-Archiv, das mittels künstlicher Intelligenz funktioniert, ist sehenswert. Nach Umbaupausen wieder geöffnet sind dagegen die Berlinische Galerie mit aktuellen Ausstellungen, sowie das Haus der Kulturen der Welt (interessant auch das neue, mittels Gesichtserkennung variable Logo). Das Künstler·innenkollektiv Why Not? sucht Mitwirkende bei ihrem für den Winter geplanten Projekt Monstera, bei dem eine Erinnerungslandschaft als interaktive Installation entstehen soll. Noch ein Gesuch: Das auf interkulturelle Gestaltung spezialisierte Studio Wu sucht eine studentische Mitarbeit.


Die Titelzeile ist aus der Octagon Variable gesetzt, einem experimentellen Projekt von Studierenden der HAW Hamburg unter Leitung von Prof. Pierre Pané-Farré und Simon Thiefes.

Im Titelbild nutzen wir die FF Uberhand von Jens Kutílek.

Nachbericht 103. Typostammtisch: Ulrike Rausch & Lea Giesecke

Ein Abend, zwei Masterarbeiten, so verschieden und doch dicht verflochten. 

Die beiden Absolventinnen Ulrike Rausch und Lea Giesecke sind angespornt von Neugier, Entdeckerinnengeist, vom Drang haptisch gestaltend etwas zu erhalten und es gleichzeitig zu hinterfragen, es zukunftsfähig zu machen. Die Themen ihrer Masterarbeiten lauten Maschinen schreiben (Ulrike) und BuchBauKasten (Lea). In Ulrikes Vortrag geht es um teilweise selbstgebaute Maschinen, die Handschriften reproduzieren; um Gamification und die Frage, was eigentlich authentisch ist. Lea lässt uns eintauchen in die Welt der Buchbinderei. Wir erfahren vom aussterbenden Handwerk und neuen Ansätzen, Wissen an kommende Gestalterinnengenerationen weiterzugeben.

Dieser Artikel ist, ebenso wie Ulrikes Masterarbeit und Vortrag, im generischen Femininum verfasst. Jawohl!

Speakerinnenimbiss diesmal: Sushi
„Was die Handschrift verrät“ – Ja, was denn eigentlich?
Das Publikum nimmt Platz.
Los geht’s! TStT-Moderator Lukas Horn begrüßt alle und gibt weiter an …
… Ulrike Rausch. Sie zeigt uns wie „Maschinen schreiben“.

Der Blick zurück

Ulrikes erste Reaktion, als Udk-Professor David Skopec ihr einen Masterabschluss anriet, um selbst Masterstudentinnen unterrichten zu können: „Bestimmt nicht“. Selbstredend, ein Masterstudium bedeutet viel Arbeit, und wer wie Ulrike jahrelang mit Schriftgestaltung Brötchen verdient, auf internationalen Bühnen gestanden und auch bereits publiziert hat, schreckt sicherlich erst einmal zurück vor der Umstellung, die erneutes Studieren bedeutet. Andererseits: Warum eigentlich nicht? Und schon toll, so „Bildung for free als erwachsener Mensch“, wie Ulrike es formuliert. Nun steht sie also als Master of Arts vor uns.

Lea Giesecke stellt ihren BuchBauKasten vor.

Lea, ebenfalls seit letztem Jahr Master of Arts, absolvierte ihr Masterstudium direkt im Anschluss an den Bachelorabschluss an der FH Potsdam. Während ihres Studiums arbeitete sie in der Buchbindewerkstatt der Hochschule, wo sie mit Fragen zu den schier endlosen Möglichkeiten von Faltungen, Bindungen und Produktion konsultiert wurde. Oft kamen Studentinnen am Ende des Semesters allerdings mit fertig gestalteten Projekten, bei denen die Buchbindetechnik nicht mitgedacht wurde und wenig nachträgliche Änderungen möglich waren. Lea beobachtete also die Tendenz, Inhalt und Form nicht bis zur Produktion zu konzipieren. Um das zu ändern, wollte sie Studentinnen ein simples und doch ungemein tiefgreifendes Werk an die Hand geben. Einen dicken Wälzer womöglich? Nein, ein Plakat mit dazugehörigen Legekarten.

Leas Idee entwickelte sich in der Buchbindewerkstatt der FH Potsdam.

Theorie

In ihrem theoretischen Teil zeigt Ulrike anhand von ausgewählten schreibenden Maschinen (Telautograph, Longpen, Autopen), wie sich die Sicht auf Handschrift in der Geschichte verändert hat. So wurde der Telautograph bei seiner Vorstellung 1893 verblüfft bis skeptisch aufgenommen: Wie konnte es sein, dass eine nahezu originalgetreue Abschrift eines handgeschriebenen Textes in kilometerweiter Entfernung von einer Maschine reproduziert wird? Auch der Longpen, ein digitaler Unterschriftenautomat, erfunden 2004 von der Autorin Margaret Atwood, wirft Fragen zur Nähe zwischen Fan und Autorin bei einer Remote-Signierstunde auf (… und das vor Corona!). Oder der Autopen, jener Unterschriftenautomat, der seit 1937 zum Tagesgeschäft beispielweise der US-amerikanischen Politik gehört und nach wie vor für Signaturen von höchster Stelle genutzt wird. Gebt mal „Patriot Act“ in der Suchmaschine eurer Wahl ein: Dieses Gesetz wurde via Autopen unterschrieben, in Auftrag gegeben von Barack Obama. Ist solch eine Praxis eigentlich rechtssicher? 

1893 entstand diese verblüffend ähnliche Abschrift (rechte Seite) durch den Telautograph.
Über das Authetizitätsversprechen von Autogrammen
Künstliche Intelligenzen leiten aus wenigen vorhanden Buchstaben (linke Spalte) neue Buchstaben ab. Da kann man nur sagen: Oha.

Bis hierhin haben wir schon viel über Authentizität gelernt. Im Weiteren geht es auch um täuschend echte Handschrift-Fonts, Anbieterinnen von pseudo-authentischen Massen-Mailings und um künstliche Intelligenz, die anhand von einzelnen Worten ganze Handschriften ableitet. Und da sind wir noch nicht beim praktischen Teil!

Zunächst nämlich Leas theoretischer Teil. Dieser beschäftigt sich mit der haptischen Erfahrbarkeit von Büchern. Lea ist interessiert an allem, was das Medium Buch auf dieser Ebene ausreizt: Format, Bindung, Material, Details, Veredelungen, Faltungen. In diesem kreativ-handwerklichen Umfeld entwickelt sich total folgerichtig ihr BuchBauKasten (BBK), auf dessen Umsetzung sie den Fokus ihres Vortrags legt.

Geformt durch Neugier, Erklärungsbedarf und Interesse am besonderen Buch.

Praxis

Entstanden ist ein umfangreiches und intelligent gefaltetes Plakat, das anhand von neutralen Illustrationen verschiedene Möglichkeiten von Bindung, Einband, Falzung und Ausstattung aufzeigt. Sie hätte es nie verstanden, dass die inititale Unterscheidung Broschur/Hardcover bereits zu solch großen Einschränkungen in der Auswahl der Bindung führen soll, sagt Lea. Schließlich seien auch andere Kombinationen vorstellbar als Broschur mit Klebebindung und Hardcover mit Fadenheftung. Ziel war es also, kein vorgefertigtes Bild zu zeichnen, sondern qua Gestaltung des Plakates schon möglichst viele Kombinationen offen zu halten und zum Ausprobieren anzuregen.

Überhaupt, ausprobieren: Auch die Betreuerinnen der Masterarbeit seien skeptisch gewesen, ob dieser unkonventionelle Ansatz funktioniert. Kurzerhand leitete Lea also selbst eine Projektwoche an der FH Potsdam, in der Studentinnen alle möglichen per Zufall ausgelosten Kombinationen der vier Kategorien in Buchprojekte übersetzten. Und siehe da: Die meisten Konstellationen waren umsetzbar, wenn man Spielraum zur Interpretation der Techniken lässt, und die Erwartungen wurden mit außergewöhnlichen Ergebnissen übertroffen. 

Prima Publikation. Prima gefaltet. Das Plakat gibt’s auf Deutsch und Englisch, gefaltet und gerollt. Das dazugehörige Set der Legekarten ist in Arbeit und soll eine freiere Herangehensweise ans Büchermachen unterstützen.
Lukas Horn unterstützt beim Vorstellen des Plakats.

Leas Projekt betont den spielerischen Umgang mit Produktion. Es ist offen für eure Projekte. Es möchte gefüllt werden, schon zu Beginn des Denkprozesses zurate gezogen und zum Leben erweckt werden. Die perspektivischen Illustrationen, die nur das für die jeweilige Rubrik Wesentliche zeigen, und die insgesamt sehr zurückgenommene, schwarz-weiße Gestaltung sprechen für sich. Begleitend zum Projekt gibt es eine Webseite (buchbaukasten.club).

Bis sie einen angemessenen Illustrationsstil herausgearbeitet habe, der im Detail unterscheidbar aber im Allgemeinen neutral genug sei, habe es eine ganze Weile gedauert, so Lea.

Ulrikes praktischer Teil könnte auch einem Grundstudium Elektrotechnik entspringen: Sie knippert Kontakte, vertüdelt Kabel, schraubt und lötet. Kein Servomotor und kein DVD-Laufwerk ist vor ihr sicher – bis die kleinen Racker das schreiben, was Ulrike will. Oder bis zumindest die Grenze des Machbaren erreicht ist. Eine Frage aus dem Publikum, ob ihre selbstgebauten Schreibroboter Namen hätten, verneint Ulrike. Die Vermutung ist allerdings sehr verständlich: frau tendiert dazu, diese Maschinen zu vermenschlichen. Sie wachsen ans Herz, schreiben sie doch menschliche Worte mit so abstrus-niedlichen Geräuschen. Bei so viel philophischer Metaebene (von Menschen gebaute schreibende Maschinen schreiben wie schreibende Menschen, die das Geschriebene digitalisieren um dann mit Maschinen zu schreiben wie …) hört es sich doch leichter dem Roboter beim Quietschen zu. HA HA HA, Nö Nö Nö.

Ein Roboterarm ohne Name schreibt „HAHAHA“ auf eine Rolle …
… und ein anderes Maschinchen „Nö Nö Nö“ auf Post-its.
Von Servomotoren, DVD-Laufwerken und vielen, vielen Kabeln.
Das Auto als Stift; Gamification I
und rückwärts digitalisiert; Gamification II.

Es gäbe noch so viel nachzuerzählen. Aber ihr sollt ja auch Lust haben, nochmal an anderer Stelle von den beiden Ladies und ihren Projekten zu hören. Wie also geht’s weiter mit den Abschlussarbeiten?

Der Blick nach vorn

Nachdem der BuchBaukasten Anfang des Jahres beim kleinen Stuttgarter Verlag Prima Publikationen veröffentlicht wurde, ist Lea in diesem Jahr bei vielen Gelegenheiten anzutreffen: Auf diversen Messen, bei Workshops im EinBuch.haus in Berlin und auch ab und zu auf dem Buchbindestammtisch. Unser Herz hüpft. Ja, Buchbindestammtisch! Lea erzählt davon, wie dieses Handwerk zunehmend ausstirbt und wie offen sie mit ihren frischen Ideen beim Stammtisch empfangen wurde. Aus dem Publikum gibt es noch Anregungen zu einem interaktiven Herstellerinnenverzeichnis, das Werkstätten und Betriebe gegliedert nach Umsetzungsmöglichkeiten aufzeigt. Denn, auch das sei nicht immer einfach, bestätigt Lea: Leute zu finden, die die Ideen am Ende umsetzen. 

Crowdfunding: check. Verlag: check. What’s next?
Unter anderem auf diesen Messen ist Lea dieses Jahr anzutreffen.
Oder man besucht einen ihrer Workshops, z.B. im EinBuch.haus.

Letzte Publikumsfrage, diesmal an Ulrike: Erwartet uns im Hause LiebeFonts ein neues Label mit maschinengeschriebenen Handschriftenfonts? Nee, entgegenet Ulrike. Lieber in die Schublade damit und dort wertvoll werden lassen. The present is already past.

Wir meinen: Zumindest den Vortrag sollten unbedingt mehr Menschen hören dürfen.

Danke euch beiden!

26.5.2023: Mastering Type 2021/22

Was ist der aktuelle Stand im Typedesign? Womit beschäftigen sich Studierende zur Zeit, welche spannenden Ideen werden umgesetzt? Wie viel kann man eigentlich innerhalb von kurzer Zeit wuppen? Das fragen wir uns jedes Jahr und stellen für euch in der Veranstaltungsreihe Mastering Type die Abschlussprojekte verschiedener Typedesign-Studiengänge aus. Dieses Jahr dabei: Reading (UK), TypeMedia (NL), TypeParis (FR), Estienne (FR) und Écal (CH).

Achtung, diesmal findet der Typostammtisch nicht wie gewohnt donnerstags statt. Die Ausstellungseröffnung ist am Freitagabend. Am Samstag könnt ihr die Projekte noch einmal in Ruhe anschauen. Zusätzlich wird es Kurzvorträge geben, bei denen einige Studierende ihre Arbeiten genauer vorstellen. Zu Gast sind wir wie gewohnt in den Räumen der Universität der Künste.

Das Programm im Überblick: / Program overview:

Freitag, 26.05.2023 / Friday
Ausstellungseröffnung um 19 Uhr / Exhibition opening 7 p.m.

Samstag, 27.05.2023 / Saturday
Vorträge Alumni: 15 Uhr / Project presentations 3 p.m.
Ausstellung ist geöffnet von 15 bis 18 Uhr / Exhibition is open from 3 to 6 p.m.

Wo? Im Medienhaus der Universität der Künste Berlin, Grunewaldstraße 2–5, 10823 Berlin
Galerie im Erdgeschoss / Ground floor

Bis dahin, wir freuen uns!
Typostammtisch-Team


Es ist wieder Konferenzzeit! Vom 9. bis 14. Mai findet die ATypI in Paris statt. Es gibt vergünstigte Remote- und Studi-Tickets. Zeitgleich, nämlich vom 12. bis 14. Mai, steigen die Leipziger Typotage. Ihr habt also die Qual der Wahl. Wieder Paris: Am 3. Juni findet die NOW23 statt, organisiert vom auch bei unserer Ausstellung präsenten Studiengang TypeParis. Selbst wenn ihr nicht die Leipziger Typotage besucht, sondern einfach so mal in Leipzig vorbeikommt, bietet sich das Museum für Druckkunst an: Bis 18. Juni ist die aktuelle Ausstellung Dafi Kühne – Buchdruckplakate dort zu sehen. Auch in Berlin gibt’s natürlich tolle Museen: Kennt ihr z.B. schon das Haus des Papiers? Am 6. Juni treffen sich die Verlage Korbinian und März im Rahmen der Staatsbibliothek-Reihe IndieStabi zum Gespräch. Und am 15. Juni findet zum ersten Mal der PrintGarden in der p98a statt, ein Festival mit Live-Printing, Verköstigung und Beteiligung etlicher lokaler Druckereien. Zu guter Letzt geht noch ein Gruß an die Kolleginnen und Kollegen im Ruhrgebiet, dort gibt’s nämlich neuerdings auch einen Typostammtisch RheinRuhr. Juhu!


Die Titelzeile ist in der Cosm Decay Hard von Benn Zorn gesetzt.

27.04.2023: Maschinen schreiben & BuchBauKasten

Von Maschinen, die schreiben und den endlosen Möglichkeiten der Buchbindung: Ulrike Rausch und Lea Giesecke stellen ihre Master-Arbeiten vor.

Ulrike Rausch ist Schriftgestalterin, ihre Type Foundry ist LiebeFonts. Für uns beleuchtet sie, wie neue Technologien analoge Schreibgewohnheiten und den Stellenwert von Handschrift verändern. Ulrike beschäftigt sich mit der Frage, welche neuen Formen des Schreibens wir zukünftig mit Robotern und Künstlichen Intelligenzen schaffen können. Für ihre Arbeit hat sie mit einem Roboterarm experimentiert und eigene schreibende Maschinen gebaut. Ein Bestaunen von Mensch-Maschine-Kreationen.

Lea Giesecke ist Grafikdesignerin mit Schwerpunkt auf Print. Mit ihrem BuchBauKasten-Projekt erläutert sie uns die Elemente der haptischen Buchgestaltung. Im freien Umgang mit verschiedenen Techniken entstehen neue Ideen für unkonventionelle Bücher und Buchobjekte. Leas vielseitiger BuchBauKasten eignet sich als Lehrmaterial für Studierende und Lehrlinge, als Inspiration für Gestalterinnen und Künstlerinnen, für Beratungsgespräche in Druckereien, Buchbindereien und Verlagen. Ein Eintauchen in die Buchkunst.

Und für alle, die zu unserem vorletzten Event, dem Typostammtisch #101, nicht dabei sein konnten, gibt es hier den Nachbericht.

Wann? Donnerstag, 27. April 2023, 19 Uhr
Wo? Eisenacher Straße 56, im Studio von LucasFonts, 2. Hinterhof, 10823 Berlin-Schöneberg

Bis dahin, euer
Typostammtisch-Team


Am 3. Mai um 18 Uhr geht es in der Kunstbibliothek in der Reihe „Nah dran“ um Buchgestaltung des Typografen und Gestalters Walter Nikkels. Er wird vor Ort sein und über seine Bücher aus der Sammlung sprechen. Bis zum 12. Mai findet die Ausstellung Another Reading – Contemporary Book Design from China im Center for Visual Arts Berlin statt. Die Themen reichen von traditionellem Handwerk und der Gestaltung chinesischer Schriftzeichen bis hin zu moderner chinesischer Literatur und zeitgenössischer Kunst. Am 20. Mai feiert das Buchstabenmuseum seinen 18. Geburtstag – Herzlichen Glückwunsch! Und am 25. Mai um 18 Uhr gibt es den Vortrag Historical Resonances Illuminated – The Chinese Handwritten Health Care Volumes of the 16th through the 20th Century von Prof. Dr. Paul U. Unschuld in der Staatsbibliothek.


Die Titelzeile ist in der Oakley Black Italic von Marc van Leeuwen gesetzt.

Nachbericht 101. Typostammtisch: Studio Pandan

Wir freuen uns, Pia Christmann und Ann Richter sind bei uns! Dieses Mal wurde als Speakers Imbiss (neue Rubrik) selbst gebackenes Brot, gesundes Grün-Rot, frische Butter und Käse gereicht. Kam an. Pandan. Was für ein guter Klang, schon im Namen. Mehr dazu später.

Studio Pandan, gegründet 2015, haben enorme Strahlkraft insbesondere für jüngere und noch studierende Kolleg·innen. Alle anderen sind ebenso be- bis leicht entgeistert. Warum, das entfaltet sich unmittelbar durch ihre Präsenz und Projekte. Die ruhige, sorgfältige Art ihrer Arbeitsweise kommt schon im gemeinsamen Vortrag raus, das sensationell Neue, Frische ihrer Gestaltungsideen wirft uns umso mehr um und verblüfft quasi stufenweise, je genauer man hinschaut.

Den Namen erklären wir später noch …

Entspannt und konzentriert folgen wir dem Duo in ihrer Präsentation. Die beiden kennen sich seit ihrem Studium in Leipzig (HGB Hochschule für für Grafik und Buchkunst) und sind gut eingespielt. In ihren Projekten ist zu sehen, und Lukas Horn stellt es durch seine Beobachtung am Schluss heraus, dass bei jedem Projekt die Typografie ganz am Anfang kommt.

… und dieses Projekt weiter unten.

Wie arbeiten sie? Sie suchen und sammeln Schriften in einer Art Mood Board, die in Frage kommen könnten für das jeweilige Projekt. Sie tüfteln und bearbeiten diese Schriften, schreiben selber Skripte (in InDesign), um sie nicht für das jeweilige Projektkonzept irgendwie passend zu machen, sondern mit den Inhalten, ja, zum Teil zu verschmelzen.

Ein Beispiel dafür ist ganz offenkundig „das Wasserfall-Projekt“, das anders heißt, aber so in Erinnerung bleibt. Weil die Schrift wasserfallartig von oben nach unten herunterfällt, kleiner wird auf den Buchseiten: innerhalb der Überschriften und Fließtexte (sic!). Es handelt sich um den Ausstellungskatalog zu Dem Wasser folgen, Kunsthalle Bielefeld. In Assoziationen und Reflexionen berührt die Schau ökologische bis philosophische Aspekte rund um das große Thema Wasser. Nach dem Motto Thinking about water is thinking about the future der Künstlerin Roni Horn nutzen Studio Pandan für die Kataloggestaltung umweltfreundliche Papiere und Blautöne als Schrift- und Hintergrundfarbe für die abgebildeten Kunstwerke. Blaues Affichenpapier wird zum durchgehenden Materialmotiv. Stichwort Schrift: Es handelt sich um die (hier vorab veröffentlichte) New Edge von Charlotte Rohde, die mit ihren „teils fluiden Formen und wie mit Farbe gefüllten Ink-Traps“ perfekt zum Thema passe. Spannend die Struktur des Buches und wie diese den Lesefluss (!) beeinflusst (!): Der Haupttext mäandert durch das Buch, immer mal wieder auf und abtauchend.

Schriften, die ins All ausmorphen

Als weiteres Beispiel sei die futuristisch ins All hinausmorphende Kursive im Künstlerbuch für Zach Blas genannt. Oft bindet er Künstliche Intelligenz methodisch in seinen Arbeitsprozess ein. Konsequent haben Studio Pandan in Bezug auf die Typografie auch mit Technologie und Automatisierung gearbeitet, genauer gesagt (auf Rückfrage von Verena Gerlach) mit InDesign-Skripten, beispielhaft hier bei diesem Projekt so: InDesign-Skript —> zufälliges Mischen von zwei verschiedenen Schnitten der LL Unica 77 —> „Glitch-Ästhetik, wie sie auch in Blas’ Arbeiten auftaucht“, so Ann und Pia.

Der Künstler und Autor Zach Blas befasst sich mit Technik, Queerness und politischen Themen.
In Zach Blas’ Welt gibt es ein alternatives „Contra-Internet” und KI-generierte Weissagungen einer Zukunft, in der Eidechsen und Elfen angesiedelt sind.
Methode: InDesign-Skript —> zufälliges Mischen von zwei Schnitten der LL Unica 77 …
—> „Glitch-Ästhetik, wie sie auch in Blas’ Arbeiten auftaucht“ (Projektfotos: Studio Pandan)
Schriften, die ins All ausmorphen (Foto: Studio Pandan)

Studio Pandan nutzen Silber, Neongrün und Neonpink als Sonderfarben zusätzlich zur CMYK-Skala, um die beeindruckenden Farben seiner Installationen ins Buch zu übersetzen. „Für den Part, wo Elfen sprechen, haben wir der Schrift einen Glow verliehen und mit Silber auf die Bilder gedruckt“ (dies bezieht sich auf besagte Kursive, wo sie nicht mit der Schriftschnittmischung arbeiten). Herausgegeben und beauftragt wurde das Buch durch das Edith-Russ-Haus für Medienkunst (Verlag Sternberg Press, Produktion print professionals und DZA Druckerei zu Altenburg).

Von der Straße …
… ins Museum.

Pandemiefreundliche Puzzle-Edition

Bei den freien Projekten, mit denen Pia Christmann und Ann Richter sich beschäftigen, geht es um gesellschaftskritische Themen wie Feminismus und Design. Ihr „Pandemieprojekt“ war More Women Solo Art Shows. Zur Demo am 8. März 2020 zum Internationaler Frauentag hatte Stefan Marx in einer markanten weißen Versalschrift Plakate mit Parolen gestaltet, die auf vielen Fotos zu sehen waren und für hohe Aufmerksamkeit und Wiedererkennung sorgten. Angeregt davon, entwickelten Studio Pandan eine Puzzle-Edition, und konnten das Museum Villa Stuck von der Idee überzeugen, das Puzzle herauszugeben und damit in Serie zu gehen.

Hochschulfreundliche Kooperationen und verpixelte Handtücher

In einem Plakat-Workshop an der Muthesius Kunsthochschule Kiel regten Ann und Pia Studierende dazu an, mit den verschiedenen typografischen Genderformen visuell zu experimentieren. Zur Unterstützung des Crowdfundings von Hannah Wittes Buch Typohacks gestalteten sie das Plakat Un_Writing Gender, auf dem sie die traditionellen, binären weiblich-männlich-Zeichen zerhäckseln. Der Titel bzw. Slogan ist eine Referenz zum Konzept Un_doing Gender (Hirschauer, Butler); als Schrift verwenden sie die Apparat von Lisa Drechsel.

Am Überbrücken von zu engen Wertesystemen ist Studio Pandan auch in einem größeren Kontext gelegen. Für das Kunstfestival Balade Berlin im Stadtteil Charlottenburg gestalteten sie die Visuelle Identität – und installierten vor dem sehr feinen Hotel Savoy drei Flaggen mit der Aufschrift UN_DOING CLASS. Den Claim setzten sie in der Flemish Script, einer klassizistischen, monumentalen Antiqua, auch in Anlehnung an Marcel Broodthaers und wegen des exquisiten Flairs, das diesen Schrifttypen anhaftet. Allerdings sparten sie nicht an Effekten. „Denn uns geht es natürlich um den Bruch und die Infragestellung von Klassen und Schubladen – nicht nur in Stilen“, erläutern sie. „Das wird spätestens auf der Bildebene klar, auf der wir mit ,Poor Images‘ gearbeitet haben, verpixelten Abbildungen von Strandtüchern. Die „Kitschmotive aus dem Internet“ kamen, handtuchgroß aufgeblasen, nicht nur in Charlottenburg gut an.

Im Nachhinein stellen wir gemeinsam fest: Die pandemiebeeinflusste Aufteilung von Studio Pandan und Eps51 (siehe Nachbericht), die in einem Haus sitzen und die wir ursprünglich zusammen einladen wollten, war viel besser! Jede hatte viel, viel Raum und die Zusammenbringung von Schriftanwender·innen mit Schriftgestalter·innen ist richtig produktiv. Zumal, wenn der Umgang mit Schrift und den Mitteln der Typografie so außergewöhnlich und fundiert geschieht.

Eine spannende Frage aus dem Publikum war, wie Pandan ihre Auftraggeber·innen von ihren Gestaltungen überzeugen. Es werde immer weniger nötig, sagt Pia, und Ann ergänzt „wir haben dafür keine spezielle Strategie ausgeheckt“. Aber: Sie würden ihre Ideen erklären, die konzeptionellen Gedanken auch hinter Details. Dazu passte der visuell-verbale Abschluss der Präsentation, bei dem Pia diverse Textauszüge und Zitate aus einiger ihrer Projekte zeigt. Jedes davon könne als Motto für sie als Kreative verstanden werden.

Vielen Dank, dass ihr da wart, liebe Ann, liebe Pia!

Oder umgekehrt: Pia, Ann. Pandan. Ihr Name, auch dieses Geheimnis wurde auf eine Publikumsfrage hin gelüftet (die mich als Texterin besonders freute), lässt ihre Vornamen anklingen. Pandan habe (a) einen sehr schönen Klang und erinnere an Pan Am, so Pia; Pandan ist eine südostasiatische Pflanze und damit ein persönlicher Bezugspunkt für Ann – es gibt sie auch als sehr leckere Eissorte, empfiehlt im Publikum Verena Gerlach, die Autorin denkt an dieser Stelle: das neue Waldmeister! Muss ich probieren. Zudem ist Pandan (c) knallgrün, also Logofarbe fürs Studio und ein Statement: für mehr Farbe in der visuellen Gesaltung. Die Menschen mögen Farbe, ziehen die beiden noch als Fazit aus ihrer Arbeit. In diesem Sinne: Pandan!

Der Abend klingt noch lang und mit fröhlichen, angeregten Gesprächen aus. Ich erinnere mich an Christoph Koeberlin (Sportfonts), wie er unsere Vortragenden beruhigt: Schrift-Nerds seien „gar nicht so schlimm“ und kritisch als Publikum (damit, ob und wie alle Schriften genannt werden). Ich erinnere mich an das Hamster-Gespräch mit Typostammtisch-Gründer Ivo Gabrowitsch (Fontwerk) über Schriftnamensfindungsprozesse, die meist keine seien, sondern ihm entspringen (oder wie Hamster von den Gestalter·innen kämen). Ich erinnere mich an viele neue Gesichter beim Typostammtisch und viel freudige Begeisterung über die schöne Location – Riesendank an Luc(as)/LucasFonts)! Ich denke an meine Kollegin Gosia Warrink von der UdK (Universität der Künste) Berlin, mit Katja Koeberlin als Design-Studio Amberpress, und an unsere Studierenden und wie alle aufeinander zugingen. Ich erinnere mich an meine Aufregung, danke Lukas für die Co-Moderation (!!!) und wie ungewohnt und schön doch wieder solche Zusammenkünfte sind …

Was wir euch außerdem noch sagen wollten …

Mit diesem Typostammtisch haben wir einen neuen Alterspannweitenrekord aufgestellt! Trommelwirbel, Tusch: von 14 Jahren (LucasFonts-Schülerpraktikantin Neike) bis 85 Jahre (Klaus Rähm). Auf die nächsten 100 Jahre Typostammtische, die mit der Ausgabe 101 sehr schön begonnen haben. Nicht vergessen: Newsletter = Einladung zu 102 ff.

Lukas Horn und Sonja Knecht, Team Typostammtisch mit Pia Christmann und Ann Richter, Studio Pandan
Ann Richter & Pia Christmann glücklich und erschöpft nach ihre tollen Präsentation – vielen Dank nochmals euch beiden! War super.

(Fotos: Sonja Knecht, Lucas de Groot und Dr. Thomas Maier / Typostammtisch Berlin)